Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Riemann, Bernhard: Ueber die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen. In: Abhandlungen der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen 13 (1868), S. 133-150.

Bild:
<< vorherige Seite
UEB. D. HYPOTHESEN, WELCHE DER GEOMETRIE ZU GRUNDE LIEGEN.
§. 1.

Grössenbegriffe sind nur da möglich, wo sich ein allgemeiner Begriff
vorfindet, der verschiedene Bestimmungsweisen zulässt. Je nachdem
unter diesen Bestimmungsweisen von einer zu einer andern ein stetiger
Uebergang stattfindet oder nicht, bilden sie eine stetige oder discrete
Mannigfaltigkeit; die einzelnen Bestimmungsweisen heissen im erstern
Falle Punkte, im letztern Elemente dieser Mannigfaltigkeit. Begriffe,
deren Bestimmungsweisen eine discrete Mannigfaltigkeit bilden, sind so
häufig, dass sich für beliebig gegebene Dinge wenigstens in den gebilde-
teren Sprachen immer ein Begriff auffinden lässt, unter welchem sie ent-
halten sind (und die Mathematiker konnten daher in der Lehre von den
discreten Grössen unbedenklich von der Forderung ausgehen, gegebene
Dinge als gleichartig zu betrachten), dagegen sind die Veranlassungen
zur Bildung von Begriffen, deren Bestimmungsweisen eine stetige Man-
nigfaltigkeit bilden, im gemeinen Leben so selten, dass die Orte der
Sinnengegenstände und die Farben wohl die einzigen einfachen Begriffe
sind, deren Bestimmungsweisen eine mehrfach ausgedehnte Mannigfaltig-
keit bilden. Häufigere Veranlassung zur Ergeuzung und Ausbildung
dieser Begriffe findet sich erst in der höhern Mathematik.

Bestimmte, durch ein Merkmal oder eine Grenze unterschiedene
Theile einer Mannigfaltigkeit heissen Quanta. Ihre Vergleichung der
Quantität nach geschieht bei den discreten Grössen durch Zählung, bei
den stetigen durch Messung. Das Messen besteht in einem Aufeinander-
legen der zu vergleichenden Grössen; zum Messen wird also ein Mittel
erfordert, die eine Grösse als Massstab für die andere fortzutragen. Fehlt
dieses, so kann man zwei Grössen nur vergleichen, wenn die eine ein
Theil der andern ist, und auch dann nur das Mehr oder Minder, nicht
das Wieviel entscheiden. Die Untersuchungen, welche sich in diesem
Falle über sie anstellen lassen, bilden einen allgemeinen von Massbe-
stimmungen unabhängigen Theil der Grössenlehre, wo die Grössen nicht
als unabhängig von der Lage existirend und nicht als durch eine Ein
heit ausdrückbar, sondern als Gebiete in einer Mannigfaltigkeit betrachtet
werden. Solche Untersuchungen sind für mehrere Theile der Mathematik,

UEB. D. HYPOTHESEN, WELCHE DER GEOMETRIE ZU GRUNDE LIEGEN.
§. 1.

Grössenbegriffe sind nur da möglich, wo sich ein allgemeiner Begriff
vorfindet, der verschiedene Bestimmungsweisen zulässt. Je nachdem
unter diesen Bestimmungsweisen von einer zu einer andern ein stetiger
Uebergang stattfindet oder nicht, bilden sie eine stetige oder discrete
Mannigfaltigkeit; die einzelnen Bestimmungsweisen heissen im erstern
Falle Punkte, im letztern Elemente dieser Mannigfaltigkeit. Begriffe,
deren Bestimmungsweisen eine discrete Mannigfaltigkeit bilden, sind so
häufig, dass sich für beliebig gegebene Dinge wenigstens in den gebilde-
teren Sprachen immer ein Begriff auffinden lässt, unter welchem sie ent-
halten sind (und die Mathematiker konnten daher in der Lehre von den
discreten Grössen unbedenklich von der Forderung ausgehen, gegebene
Dinge als gleichartig zu betrachten), dagegen sind die Veranlassungen
zur Bildung von Begriffen, deren Bestimmungsweisen eine stetige Man-
nigfaltigkeit bilden, im gemeinen Leben so selten, dass die Orte der
Sinnengegenstände und die Farben wohl die einzigen einfachen Begriffe
sind, deren Bestimmungsweisen eine mehrfach ausgedehnte Mannigfaltig-
keit bilden. Häufigere Veranlassung zur Ergeuzung und Ausbildung
dieser Begriffe findet sich erst in der höhern Mathematik.

Bestimmte, durch ein Merkmal oder eine Grenze unterschiedene
Theile einer Mannigfaltigkeit heissen Quanta. Ihre Vergleichung der
Quantität nach geschieht bei den discreten Grössen durch Zählung, bei
den stetigen durch Messung. Das Messen besteht in einem Aufeinander-
legen der zu vergleichenden Grössen; zum Messen wird also ein Mittel
erfordert, die eine Grösse als Massstab für die andere fortzutragen. Fehlt
dieses, so kann man zwei Grössen nur vergleichen, wenn die eine ein
Theil der andern ist, und auch dann nur das Mehr oder Minder, nicht
das Wieviel entscheiden. Die Untersuchungen, welche sich in diesem
Falle über sie anstellen lassen, bilden einen allgemeinen von Massbe-
stimmungen unabhängigen Theil der Grössenlehre, wo die Grössen nicht
als unabhängig von der Lage existirend und nicht als durch eine Ein
heit ausdrückbar, sondern als Gebiete in einer Mannigfaltigkeit betrachtet
werden. Solche Untersuchungen sind für mehrere Theile der Mathematik,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0010" n="135"/>
          <fw place="top" type="header">UEB. D. HYPOTHESEN, WELCHE DER GEOMETRIE ZU GRUNDE LIEGEN.</fw><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 1.</head><lb/>
            <p>Grössenbegriffe sind nur da möglich, wo sich ein allgemeiner Begriff<lb/>
vorfindet, der verschiedene Bestimmungsweisen zulässt. Je nachdem<lb/>
unter diesen Bestimmungsweisen von einer zu einer andern ein stetiger<lb/>
Uebergang stattfindet oder nicht, bilden sie eine stetige oder discrete<lb/>
Mannigfaltigkeit; die einzelnen Bestimmungsweisen heissen im erstern<lb/>
Falle Punkte, im letztern Elemente dieser Mannigfaltigkeit. Begriffe,<lb/>
deren Bestimmungsweisen eine discrete Mannigfaltigkeit bilden, sind so<lb/>
häufig, dass sich für beliebig gegebene Dinge wenigstens in den gebilde-<lb/>
teren Sprachen immer ein Begriff auffinden lässt, unter welchem sie ent-<lb/>
halten sind (und die Mathematiker konnten daher in der Lehre von den<lb/>
discreten Grössen unbedenklich von der Forderung ausgehen, gegebene<lb/>
Dinge als gleichartig zu betrachten), dagegen sind die Veranlassungen<lb/>
zur Bildung von Begriffen, deren Bestimmungsweisen eine stetige Man-<lb/>
nigfaltigkeit bilden, im gemeinen Leben so selten, dass die Orte der<lb/>
Sinnengegenstände und die Farben wohl die einzigen einfachen Begriffe<lb/>
sind, deren Bestimmungsweisen eine mehrfach ausgedehnte Mannigfaltig-<lb/>
keit bilden. Häufigere Veranlassung zur Ergeuzung und Ausbildung<lb/>
dieser Begriffe findet sich erst in der höhern Mathematik.</p><lb/>
            <p>Bestimmte, durch ein Merkmal oder eine Grenze unterschiedene<lb/>
Theile einer Mannigfaltigkeit heissen Quanta. Ihre Vergleichung der<lb/>
Quantität nach geschieht bei den discreten Grössen durch Zählung, bei<lb/>
den stetigen durch Messung. Das Messen besteht in einem Aufeinander-<lb/>
legen der zu vergleichenden Grössen; zum Messen wird also ein Mittel<lb/>
erfordert, die eine Grösse als Massstab für die andere fortzutragen. Fehlt<lb/>
dieses, so kann man zwei Grössen nur vergleichen, wenn die eine ein<lb/>
Theil der andern ist, und auch dann nur das Mehr oder Minder, nicht<lb/>
das Wieviel entscheiden. Die Untersuchungen, welche sich in diesem<lb/>
Falle über sie anstellen lassen, bilden einen allgemeinen von Massbe-<lb/>
stimmungen unabhängigen Theil der Grössenlehre, wo die Grössen nicht<lb/>
als unabhängig von der Lage existirend und nicht als durch eine Ein<lb/>
heit ausdrückbar, sondern als Gebiete in einer Mannigfaltigkeit betrachtet<lb/>
werden. Solche Untersuchungen sind für mehrere Theile der Mathematik,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[135/0010] UEB. D. HYPOTHESEN, WELCHE DER GEOMETRIE ZU GRUNDE LIEGEN. §. 1. Grössenbegriffe sind nur da möglich, wo sich ein allgemeiner Begriff vorfindet, der verschiedene Bestimmungsweisen zulässt. Je nachdem unter diesen Bestimmungsweisen von einer zu einer andern ein stetiger Uebergang stattfindet oder nicht, bilden sie eine stetige oder discrete Mannigfaltigkeit; die einzelnen Bestimmungsweisen heissen im erstern Falle Punkte, im letztern Elemente dieser Mannigfaltigkeit. Begriffe, deren Bestimmungsweisen eine discrete Mannigfaltigkeit bilden, sind so häufig, dass sich für beliebig gegebene Dinge wenigstens in den gebilde- teren Sprachen immer ein Begriff auffinden lässt, unter welchem sie ent- halten sind (und die Mathematiker konnten daher in der Lehre von den discreten Grössen unbedenklich von der Forderung ausgehen, gegebene Dinge als gleichartig zu betrachten), dagegen sind die Veranlassungen zur Bildung von Begriffen, deren Bestimmungsweisen eine stetige Man- nigfaltigkeit bilden, im gemeinen Leben so selten, dass die Orte der Sinnengegenstände und die Farben wohl die einzigen einfachen Begriffe sind, deren Bestimmungsweisen eine mehrfach ausgedehnte Mannigfaltig- keit bilden. Häufigere Veranlassung zur Ergeuzung und Ausbildung dieser Begriffe findet sich erst in der höhern Mathematik. Bestimmte, durch ein Merkmal oder eine Grenze unterschiedene Theile einer Mannigfaltigkeit heissen Quanta. Ihre Vergleichung der Quantität nach geschieht bei den discreten Grössen durch Zählung, bei den stetigen durch Messung. Das Messen besteht in einem Aufeinander- legen der zu vergleichenden Grössen; zum Messen wird also ein Mittel erfordert, die eine Grösse als Massstab für die andere fortzutragen. Fehlt dieses, so kann man zwei Grössen nur vergleichen, wenn die eine ein Theil der andern ist, und auch dann nur das Mehr oder Minder, nicht das Wieviel entscheiden. Die Untersuchungen, welche sich in diesem Falle über sie anstellen lassen, bilden einen allgemeinen von Massbe- stimmungen unabhängigen Theil der Grössenlehre, wo die Grössen nicht als unabhängig von der Lage existirend und nicht als durch eine Ein heit ausdrückbar, sondern als Gebiete in einer Mannigfaltigkeit betrachtet werden. Solche Untersuchungen sind für mehrere Theile der Mathematik,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/riemann_hypothesen_1867
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/riemann_hypothesen_1867/10
Zitationshilfe: Riemann, Bernhard: Ueber die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen. In: Abhandlungen der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen 13 (1868), S. 133-150, hier S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riemann_hypothesen_1867/10>, abgerufen am 23.11.2024.