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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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gewiesen als der blosse Volutenkelch. Wichtiger ist aber, dass wir
für das nachträgliche Aufkommen des bekrönenden Blattfächers über
dem Zwickelzäpfchen kaum einen bestimmten Grund anzugeben wüssten,
wogegen das gelegentliche Fallenlassen des Fächers sich ganz gut
motiviren lässt.

Es wurde schon bei Besprechung des Volutenkelches (S. 61) darauf
hingewiesen, dass die durch denselben zum Ausdruck gebrachte stren-
gere Scheidung zwischen Kelch und Krone einer bestimmten künst-
lerischen Empfindung entgegengekommen sein müsse, die namentlich
in der Kunst des Neuen Reiches überaus maassgebend geworden ist.
Hier ist nun der Platz, um die dort unterbrochene Erörterung dieses
Punktes wieder aufzunehmen. Die angedeutete Empfindung verlangte,
dass man den Ansatz, den Angriffspunkt eines in überwiegender Längen-
ausdehnung verlaufenden Gegenstandes zu markiren suchte. Das ge-
wöhnlichste Mittel hiezu bestand darin, den betreffenden Gegenstand
aus einem Kelch oder einer Hülse von dreieckigen Blättern (die wohl
auch vom ältesten Lotusblüthen-Typus abzuleiten sind) am Ansatze
hervorwachsen zu lassen. Die Säulenschäfte stecken mit ihrem unteren
Ende gemeiniglich in solchen Hülsen (Fig. 15); auf das gleiche Grund-
motiv gehen die Gruppen dreieckiger Blätter zurück, aus denen sich
die Palmetten Fig. 16 und 19 erheben, und nicht anders ist die Bedeu-
tung der ebensolchen Blätter am unteren Ende des Kapitäls in Fig. 20
aufzufassen. Eine solche typische Blatthülse genügte dort, wo es sich
um eine flache Ausführung (namentlich in Malerei) handelte; wo man
dagegen einen Gegenstand aus hartem Material rund herauszuschnitzen
hatte, da musste auch die zur Versinnbildlichung der erwähnten grund-
legenden Empfindung ein für alle Mal gewählte Lotusblüthe ent-
sprechende Formen annehmen. Nach dem auf S. 57 Gesagten ist es
klar, dass sich hierzu besonders der Typus mit glockenförmigem (sogen.
Papyrus-) Profil eignete. Daneben tritt in der Kunst des Neuen Reiches
als bevorzugt der Volutenkelch auf28). Ich halte nun dafür, dass diese
Verwendung hauptsächlich das Fallenlassen des hindernden Blattfächers
zur Folge gehabt hat: man liess den Fächer zunächst an solchen Bei-
spielen weg, wo der Volutenkelch als kunstsymbolische Hülse diente,
und später, als man sich an das abgekürzte Motiv einmal gewöhnt
hatte, übertrug man es auch auf die freien Endigungen, wie z. B. an

28) Beispiele für solche Verwendung beider Formen an Geräthen, Fächern,
Geisseln u. dgl. bei Lepsius III. 1 und 2.
Riegl, Stilfragen. 5

1. Egyptisches.
gewiesen als der blosse Volutenkelch. Wichtiger ist aber, dass wir
für das nachträgliche Aufkommen des bekrönenden Blattfächers über
dem Zwickelzäpfchen kaum einen bestimmten Grund anzugeben wüssten,
wogegen das gelegentliche Fallenlassen des Fächers sich ganz gut
motiviren lässt.

Es wurde schon bei Besprechung des Volutenkelches (S. 61) darauf
hingewiesen, dass die durch denselben zum Ausdruck gebrachte stren-
gere Scheidung zwischen Kelch und Krone einer bestimmten künst-
lerischen Empfindung entgegengekommen sein müsse, die namentlich
in der Kunst des Neuen Reiches überaus maassgebend geworden ist.
Hier ist nun der Platz, um die dort unterbrochene Erörterung dieses
Punktes wieder aufzunehmen. Die angedeutete Empfindung verlangte,
dass man den Ansatz, den Angriffspunkt eines in überwiegender Längen-
ausdehnung verlaufenden Gegenstandes zu markiren suchte. Das ge-
wöhnlichste Mittel hiezu bestand darin, den betreffenden Gegenstand
aus einem Kelch oder einer Hülse von dreieckigen Blättern (die wohl
auch vom ältesten Lotusblüthen-Typus abzuleiten sind) am Ansatze
hervorwachsen zu lassen. Die Säulenschäfte stecken mit ihrem unteren
Ende gemeiniglich in solchen Hülsen (Fig. 15); auf das gleiche Grund-
motiv gehen die Gruppen dreieckiger Blätter zurück, aus denen sich
die Palmetten Fig. 16 und 19 erheben, und nicht anders ist die Bedeu-
tung der ebensolchen Blätter am unteren Ende des Kapitäls in Fig. 20
aufzufassen. Eine solche typische Blatthülse genügte dort, wo es sich
um eine flache Ausführung (namentlich in Malerei) handelte; wo man
dagegen einen Gegenstand aus hartem Material rund herauszuschnitzen
hatte, da musste auch die zur Versinnbildlichung der erwähnten grund-
legenden Empfindung ein für alle Mal gewählte Lotusblüthe ent-
sprechende Formen annehmen. Nach dem auf S. 57 Gesagten ist es
klar, dass sich hierzu besonders der Typus mit glockenförmigem (sogen.
Papyrus-) Profil eignete. Daneben tritt in der Kunst des Neuen Reiches
als bevorzugt der Volutenkelch auf28). Ich halte nun dafür, dass diese
Verwendung hauptsächlich das Fallenlassen des hindernden Blattfächers
zur Folge gehabt hat: man liess den Fächer zunächst an solchen Bei-
spielen weg, wo der Volutenkelch als kunstsymbolische Hülse diente,
und später, als man sich an das abgekürzte Motiv einmal gewöhnt
hatte, übertrug man es auch auf die freien Endigungen, wie z. B. an

28) Beispiele für solche Verwendung beider Formen an Geräthen, Fächern,
Geisseln u. dgl. bei Lepsius III. 1 und 2.
Riegl, Stilfragen. 5
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[65/0091] 1. Egyptisches. gewiesen als der blosse Volutenkelch. Wichtiger ist aber, dass wir für das nachträgliche Aufkommen des bekrönenden Blattfächers über dem Zwickelzäpfchen kaum einen bestimmten Grund anzugeben wüssten, wogegen das gelegentliche Fallenlassen des Fächers sich ganz gut motiviren lässt. Es wurde schon bei Besprechung des Volutenkelches (S. 61) darauf hingewiesen, dass die durch denselben zum Ausdruck gebrachte stren- gere Scheidung zwischen Kelch und Krone einer bestimmten künst- lerischen Empfindung entgegengekommen sein müsse, die namentlich in der Kunst des Neuen Reiches überaus maassgebend geworden ist. Hier ist nun der Platz, um die dort unterbrochene Erörterung dieses Punktes wieder aufzunehmen. Die angedeutete Empfindung verlangte, dass man den Ansatz, den Angriffspunkt eines in überwiegender Längen- ausdehnung verlaufenden Gegenstandes zu markiren suchte. Das ge- wöhnlichste Mittel hiezu bestand darin, den betreffenden Gegenstand aus einem Kelch oder einer Hülse von dreieckigen Blättern (die wohl auch vom ältesten Lotusblüthen-Typus abzuleiten sind) am Ansatze hervorwachsen zu lassen. Die Säulenschäfte stecken mit ihrem unteren Ende gemeiniglich in solchen Hülsen (Fig. 15); auf das gleiche Grund- motiv gehen die Gruppen dreieckiger Blätter zurück, aus denen sich die Palmetten Fig. 16 und 19 erheben, und nicht anders ist die Bedeu- tung der ebensolchen Blätter am unteren Ende des Kapitäls in Fig. 20 aufzufassen. Eine solche typische Blatthülse genügte dort, wo es sich um eine flache Ausführung (namentlich in Malerei) handelte; wo man dagegen einen Gegenstand aus hartem Material rund herauszuschnitzen hatte, da musste auch die zur Versinnbildlichung der erwähnten grund- legenden Empfindung ein für alle Mal gewählte Lotusblüthe ent- sprechende Formen annehmen. Nach dem auf S. 57 Gesagten ist es klar, dass sich hierzu besonders der Typus mit glockenförmigem (sogen. Papyrus-) Profil eignete. Daneben tritt in der Kunst des Neuen Reiches als bevorzugt der Volutenkelch auf 28). Ich halte nun dafür, dass diese Verwendung hauptsächlich das Fallenlassen des hindernden Blattfächers zur Folge gehabt hat: man liess den Fächer zunächst an solchen Bei- spielen weg, wo der Volutenkelch als kunstsymbolische Hülse diente, und später, als man sich an das abgekürzte Motiv einmal gewöhnt hatte, übertrug man es auch auf die freien Endigungen, wie z. B. an 28) Beispiele für solche Verwendung beider Formen an Geräthen, Fächern, Geisseln u. dgl. bei Lepsius III. 1 und 2. Riegl, Stilfragen. 5

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/91>, abgerufen am 28.04.2024.