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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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Die Anfänge des Pflanzenornaments etc.
wegungslosen Pflanzenwelt nahm, wodurch wir uns die spätere Ein-
führung der Pflanze in die bildende Kunst hauptsächlich zu erklären
haben werden.

Eine weitere Frage, die sich sofort beim Beginne dieses Capitels
aufdrängt, lautet dahin, ob die ältesten Kunstdarstellungen vegetabi-
lischen Inhalts als Ornamente gedacht waren oder ob dieselben um
einer ihnen innewohnenden gegenständlichen (hieratischen, symbolischen)
Bedeutung willen zur Ausführung gelangt sind? Letztere Annahme
würde zur Voraussetzung haben, dass wir für den Menschen, der zuerst
Pflanzenformen nachgebildet hat, eine vorgeschrittenere Kulturstufe an-
nehmen müssten, -- eine Kulturstufe, welche über das blosse elemen-
tare Bedürfniss des Schmückens (S. 22) in der Kunst bereits wesentlich
hinausgekommen war. Und in der That, wenn wir erwägen, dass überall
dort, wo wir einen zwar alterthümlichen, aber fertigen und geschlossenen
Kulturzustand näher kennen gelernt haben, bildende Kunst und Re-
ligion augenscheinlich in engsten Wechselbeziehungen zu einander ge-
standen sind, werden wir von einem gewissen, freilich nicht mehr näher
zu bestimmenden Zeitpunkte an, den Anstoss zu weiteren Versuchen in
einer wahrhaft "bildenden", d. h. körperliche Naturerscheinungen nach-
empfindenden und wiedergebenden Kunst, nicht mehr allein auf einen
immanenten Schmückungs- und plastisch-imitativen Gestaltungstrieb,
(wie bei den aquitanischen Troglodyten?), sondern auch ganz wesentlich
auf religiöse d. h. gegenständliche Beweggründe zurückführen dürfen.
Die ältesten Darstellungen vegetabilischer Motive, die wir heute kennen,
finden sich auf Kunstwerken aus der Zeit des Alten Reiches von Egypten.
Bei dem eminent gegenständlichen Charakter, welcher aller altegyptischen
Kunst und insbesondere derjenigen, die uns in den Gräbern aus dem Alten
Reiche entgegentritt, eigen gewesen ist, werden wir auch die bezüglichen
Pflanzendarstellungen nicht als blosse Ornamente, sondern als religiöse
Symbole aufzufassen haben. Um ihrer selbst willen dürften wir die-
selben somit in dem Capitel über das Pflanzenornament unberück-
sichtigt lassen. Wenn wir trotzdem die Betrachtung der altegyptischen
Pflanzenmotive zum Ausgangspunkte unserer gesammten Darstellung
machen, so geschieht dies um der nachfolgenden rein ornamentalen Ent-
wicklung willen, die sich nachweislich an diese Motive geknüpft hat.

Jedes religiöse Symbol trägt in sich die Prädestination, um im Laufe
der Zeit zu einem vorwiegend oder lediglich dekorativen Motive zu
werden, sobald es nur die künstlerische Eignung dazu besitzt. Die
fortgesetzte überaus häufige Anwendung, die infolge ihrer Heiligung

Die Anfänge des Pflanzenornaments etc.
wegungslosen Pflanzenwelt nahm, wodurch wir uns die spätere Ein-
führung der Pflanze in die bildende Kunst hauptsächlich zu erklären
haben werden.

Eine weitere Frage, die sich sofort beim Beginne dieses Capitels
aufdrängt, lautet dahin, ob die ältesten Kunstdarstellungen vegetabi-
lischen Inhalts als Ornamente gedacht waren oder ob dieselben um
einer ihnen innewohnenden gegenständlichen (hieratischen, symbolischen)
Bedeutung willen zur Ausführung gelangt sind? Letztere Annahme
würde zur Voraussetzung haben, dass wir für den Menschen, der zuerst
Pflanzenformen nachgebildet hat, eine vorgeschrittenere Kulturstufe an-
nehmen müssten, — eine Kulturstufe, welche über das blosse elemen-
tare Bedürfniss des Schmückens (S. 22) in der Kunst bereits wesentlich
hinausgekommen war. Und in der That, wenn wir erwägen, dass überall
dort, wo wir einen zwar alterthümlichen, aber fertigen und geschlossenen
Kulturzustand näher kennen gelernt haben, bildende Kunst und Re-
ligion augenscheinlich in engsten Wechselbeziehungen zu einander ge-
standen sind, werden wir von einem gewissen, freilich nicht mehr näher
zu bestimmenden Zeitpunkte an, den Anstoss zu weiteren Versuchen in
einer wahrhaft „bildenden“, d. h. körperliche Naturerscheinungen nach-
empfindenden und wiedergebenden Kunst, nicht mehr allein auf einen
immanenten Schmückungs- und plastisch-imitativen Gestaltungstrieb,
(wie bei den aquitanischen Troglodyten?), sondern auch ganz wesentlich
auf religiöse d. h. gegenständliche Beweggründe zurückführen dürfen.
Die ältesten Darstellungen vegetabilischer Motive, die wir heute kennen,
finden sich auf Kunstwerken aus der Zeit des Alten Reiches von Egypten.
Bei dem eminent gegenständlichen Charakter, welcher aller altegyptischen
Kunst und insbesondere derjenigen, die uns in den Gräbern aus dem Alten
Reiche entgegentritt, eigen gewesen ist, werden wir auch die bezüglichen
Pflanzendarstellungen nicht als blosse Ornamente, sondern als religiöse
Symbole aufzufassen haben. Um ihrer selbst willen dürften wir die-
selben somit in dem Capitel über das Pflanzenornament unberück-
sichtigt lassen. Wenn wir trotzdem die Betrachtung der altegyptischen
Pflanzenmotive zum Ausgangspunkte unserer gesammten Darstellung
machen, so geschieht dies um der nachfolgenden rein ornamentalen Ent-
wicklung willen, die sich nachweislich an diese Motive geknüpft hat.

Jedes religiöse Symbol trägt in sich die Prädestination, um im Laufe
der Zeit zu einem vorwiegend oder lediglich dekorativen Motive zu
werden, sobald es nur die künstlerische Eignung dazu besitzt. Die
fortgesetzte überaus häufige Anwendung, die infolge ihrer Heiligung

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[43/0069] Die Anfänge des Pflanzenornaments etc. wegungslosen Pflanzenwelt nahm, wodurch wir uns die spätere Ein- führung der Pflanze in die bildende Kunst hauptsächlich zu erklären haben werden. Eine weitere Frage, die sich sofort beim Beginne dieses Capitels aufdrängt, lautet dahin, ob die ältesten Kunstdarstellungen vegetabi- lischen Inhalts als Ornamente gedacht waren oder ob dieselben um einer ihnen innewohnenden gegenständlichen (hieratischen, symbolischen) Bedeutung willen zur Ausführung gelangt sind? Letztere Annahme würde zur Voraussetzung haben, dass wir für den Menschen, der zuerst Pflanzenformen nachgebildet hat, eine vorgeschrittenere Kulturstufe an- nehmen müssten, — eine Kulturstufe, welche über das blosse elemen- tare Bedürfniss des Schmückens (S. 22) in der Kunst bereits wesentlich hinausgekommen war. Und in der That, wenn wir erwägen, dass überall dort, wo wir einen zwar alterthümlichen, aber fertigen und geschlossenen Kulturzustand näher kennen gelernt haben, bildende Kunst und Re- ligion augenscheinlich in engsten Wechselbeziehungen zu einander ge- standen sind, werden wir von einem gewissen, freilich nicht mehr näher zu bestimmenden Zeitpunkte an, den Anstoss zu weiteren Versuchen in einer wahrhaft „bildenden“, d. h. körperliche Naturerscheinungen nach- empfindenden und wiedergebenden Kunst, nicht mehr allein auf einen immanenten Schmückungs- und plastisch-imitativen Gestaltungstrieb, (wie bei den aquitanischen Troglodyten?), sondern auch ganz wesentlich auf religiöse d. h. gegenständliche Beweggründe zurückführen dürfen. Die ältesten Darstellungen vegetabilischer Motive, die wir heute kennen, finden sich auf Kunstwerken aus der Zeit des Alten Reiches von Egypten. Bei dem eminent gegenständlichen Charakter, welcher aller altegyptischen Kunst und insbesondere derjenigen, die uns in den Gräbern aus dem Alten Reiche entgegentritt, eigen gewesen ist, werden wir auch die bezüglichen Pflanzendarstellungen nicht als blosse Ornamente, sondern als religiöse Symbole aufzufassen haben. Um ihrer selbst willen dürften wir die- selben somit in dem Capitel über das Pflanzenornament unberück- sichtigt lassen. Wenn wir trotzdem die Betrachtung der altegyptischen Pflanzenmotive zum Ausgangspunkte unserer gesammten Darstellung machen, so geschieht dies um der nachfolgenden rein ornamentalen Ent- wicklung willen, die sich nachweislich an diese Motive geknüpft hat. Jedes religiöse Symbol trägt in sich die Prädestination, um im Laufe der Zeit zu einem vorwiegend oder lediglich dekorativen Motive zu werden, sobald es nur die künstlerische Eignung dazu besitzt. Die fortgesetzte überaus häufige Anwendung, die infolge ihrer Heiligung

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/69>, abgerufen am 28.04.2024.