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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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Der geometrische Stil.
stellungen gleich denjenigen auf den Dipylonvasen oder auf gewissen
Kunsterzeugnissen der Naturvölker, ohne weiteres als rudimentäre
Überbleibsel eines vermeintlichen geometrischen (textil-technischen)
Urstils erklärt. Die geometrisirten animalischen Figuren sind vielmehr
nicht minder wie die rein geometrischen Configurationen das Ergebniss
eines keineswegs mehr primitiven, sondern bereits eines über die erste
Stufe hinaus fortgeschrittenen künstlerischen Entwicklungsprocesses.

Ein doppelt vorgeschrittenes Stadium der Entwicklung muss vor-
ausgesetzt werden für den Augenblick, da man anscheinend geometri-
sche Configurationen bereits zu symbolischen Zwecken verwendete.
Bei dem sinnlichen Charakter aller primitiven Naturreligionen darf mit
Gewissheit angenommen werden, dass mit jenen Symbolen (z. B. mit
dem Hakenkreuz) ursprünglich die Vorstellung eines vorbildlichen
realen Naturwesens verknüpft gewesen ist. Die Geometrisirung der in
der Kunst nachgebildeten Naturformen muss daher schon zeitlich vor-
aufgegangen sein. In diesem Lichte betrachtet, mag der Symbolismus
ursprünglich nichts anderes gewesen sein als der Fetischismus: während
aber die Objekte dieses letzteren entweder selbst reale Naturformen
sind, oder, wenn im todten Material gebildet, den Bezug auf reale
Naturformen noch deutlich erkennen lassen, erscheint an den Sym-
bolen die letztere Bezugnahme sehr häufig durch die geometrische
Stilisirung bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Es ist deshalb eine der
schwierigsten Aufgaben, die Grenzen zwischen Ornament und Symbol
auseinander zu halten; nach dieser -- bisher wenig und fast aus-
schliesslich vom Dilettantismus verfolgten -- Richtung steht dem mensch-
lichen Scharfsinn noch ein überreiches Feld zur Bebauung offen, von
dem es heute sehr zweifelhaft scheint, ob es jemals gelingen wird, das-
selbe in halbwegs befriedigender Weise zu bestellen 13).

Nach dieser Digression in die dunkle Zwischenzeit, die zwischen
der Erschaffung der geometrischen Verzierungsformen (Kunststufe der
Troglodyten) und zwischen der raffinirten Verwendung dieser Formen
in den vorgriechischen Stilen liegt, kehren wir wieder zu unserem
Hauptgegenstande zurück. Was also die beiden bisher in allgemeiner
Geltung gestandenen Lehrsätze vom geometrischen Stil betrifft, so
können wir den zweiten, der die Motive dieses Stils wenigstens zum
überwiegenden Theile aus den textilen Techniken des Flechtens und

13) Beachtenswerthe Anläufe hiezu erscheinen u. a. gemacht in der Schrift
von A. R. Hein über "Mäander, Kreuze, Hakenkreuze und urmotivische Wir-
belornamente in Amerika (Wien 1891).

Der geometrische Stil.
stellungen gleich denjenigen auf den Dipylonvasen oder auf gewissen
Kunsterzeugnissen der Naturvölker, ohne weiteres als rudimentäre
Überbleibsel eines vermeintlichen geometrischen (textil-technischen)
Urstils erklärt. Die geometrisirten animalischen Figuren sind vielmehr
nicht minder wie die rein geometrischen Configurationen das Ergebniss
eines keineswegs mehr primitiven, sondern bereits eines über die erste
Stufe hinaus fortgeschrittenen künstlerischen Entwicklungsprocesses.

Ein doppelt vorgeschrittenes Stadium der Entwicklung muss vor-
ausgesetzt werden für den Augenblick, da man anscheinend geometri-
sche Configurationen bereits zu symbolischen Zwecken verwendete.
Bei dem sinnlichen Charakter aller primitiven Naturreligionen darf mit
Gewissheit angenommen werden, dass mit jenen Symbolen (z. B. mit
dem Hakenkreuz) ursprünglich die Vorstellung eines vorbildlichen
realen Naturwesens verknüpft gewesen ist. Die Geometrisirung der in
der Kunst nachgebildeten Naturformen muss daher schon zeitlich vor-
aufgegangen sein. In diesem Lichte betrachtet, mag der Symbolismus
ursprünglich nichts anderes gewesen sein als der Fetischismus: während
aber die Objekte dieses letzteren entweder selbst reale Naturformen
sind, oder, wenn im todten Material gebildet, den Bezug auf reale
Naturformen noch deutlich erkennen lassen, erscheint an den Sym-
bolen die letztere Bezugnahme sehr häufig durch die geometrische
Stilisirung bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Es ist deshalb eine der
schwierigsten Aufgaben, die Grenzen zwischen Ornament und Symbol
auseinander zu halten; nach dieser — bisher wenig und fast aus-
schliesslich vom Dilettantismus verfolgten — Richtung steht dem mensch-
lichen Scharfsinn noch ein überreiches Feld zur Bebauung offen, von
dem es heute sehr zweifelhaft scheint, ob es jemals gelingen wird, das-
selbe in halbwegs befriedigender Weise zu bestellen 13).

Nach dieser Digression in die dunkle Zwischenzeit, die zwischen
der Erschaffung der geometrischen Verzierungsformen (Kunststufe der
Troglodyten) und zwischen der raffinirten Verwendung dieser Formen
in den vorgriechischen Stilen liegt, kehren wir wieder zu unserem
Hauptgegenstande zurück. Was also die beiden bisher in allgemeiner
Geltung gestandenen Lehrsätze vom geometrischen Stil betrifft, so
können wir den zweiten, der die Motive dieses Stils wenigstens zum
überwiegenden Theile aus den textilen Techniken des Flechtens und

13) Beachtenswerthe Anläufe hiezu erscheinen u. a. gemacht in der Schrift
von A. R. Hein über „Mäander, Kreuze, Hakenkreuze und urmotivische Wir-
belornamente in Amerika (Wien 1891).
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[31/0057] Der geometrische Stil. stellungen gleich denjenigen auf den Dipylonvasen oder auf gewissen Kunsterzeugnissen der Naturvölker, ohne weiteres als rudimentäre Überbleibsel eines vermeintlichen geometrischen (textil-technischen) Urstils erklärt. Die geometrisirten animalischen Figuren sind vielmehr nicht minder wie die rein geometrischen Configurationen das Ergebniss eines keineswegs mehr primitiven, sondern bereits eines über die erste Stufe hinaus fortgeschrittenen künstlerischen Entwicklungsprocesses. Ein doppelt vorgeschrittenes Stadium der Entwicklung muss vor- ausgesetzt werden für den Augenblick, da man anscheinend geometri- sche Configurationen bereits zu symbolischen Zwecken verwendete. Bei dem sinnlichen Charakter aller primitiven Naturreligionen darf mit Gewissheit angenommen werden, dass mit jenen Symbolen (z. B. mit dem Hakenkreuz) ursprünglich die Vorstellung eines vorbildlichen realen Naturwesens verknüpft gewesen ist. Die Geometrisirung der in der Kunst nachgebildeten Naturformen muss daher schon zeitlich vor- aufgegangen sein. In diesem Lichte betrachtet, mag der Symbolismus ursprünglich nichts anderes gewesen sein als der Fetischismus: während aber die Objekte dieses letzteren entweder selbst reale Naturformen sind, oder, wenn im todten Material gebildet, den Bezug auf reale Naturformen noch deutlich erkennen lassen, erscheint an den Sym- bolen die letztere Bezugnahme sehr häufig durch die geometrische Stilisirung bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Es ist deshalb eine der schwierigsten Aufgaben, die Grenzen zwischen Ornament und Symbol auseinander zu halten; nach dieser — bisher wenig und fast aus- schliesslich vom Dilettantismus verfolgten — Richtung steht dem mensch- lichen Scharfsinn noch ein überreiches Feld zur Bebauung offen, von dem es heute sehr zweifelhaft scheint, ob es jemals gelingen wird, das- selbe in halbwegs befriedigender Weise zu bestellen 13). Nach dieser Digression in die dunkle Zwischenzeit, die zwischen der Erschaffung der geometrischen Verzierungsformen (Kunststufe der Troglodyten) und zwischen der raffinirten Verwendung dieser Formen in den vorgriechischen Stilen liegt, kehren wir wieder zu unserem Hauptgegenstande zurück. Was also die beiden bisher in allgemeiner Geltung gestandenen Lehrsätze vom geometrischen Stil betrifft, so können wir den zweiten, der die Motive dieses Stils wenigstens zum überwiegenden Theile aus den textilen Techniken des Flechtens und 13) Beachtenswerthe Anläufe hiezu erscheinen u. a. gemacht in der Schrift von A. R. Hein über „Mäander, Kreuze, Hakenkreuze und urmotivische Wir- belornamente in Amerika (Wien 1891).

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/57>, abgerufen am 27.04.2024.