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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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Der geometrische Stil.
näckig, bis auf den heutigen Tag, erhalten haben. Zweifellos weil
diese Muster den textilen Techniken am besten entsprechen, oder besser
gesagt, weil es diesen Techniken schwerer als anderen fällt, über die
eckig gebrochenen linearen Muster hinauszugehen. Dass es nament-
lich in der Weberei schliesslich doch gelungen ist, leidlich abgerun-
dete Configurationen zu Stande zu bringen, ist bekannt: das mensch-
liche Kunstwollen erscheint eben von Anbeginn unablässig darauf
gerichtet die technischen Schranken zu brechen. Aber daneben blieb,
namentlich für geringere Waare das mit leichterer Mühe zu erreichende
geometrische Muster fortdauernd in Gebrauch. Man nehme nur die
spätantiken Wirkereien aus Egypten. Es giebt keine Rundung die man
daran nicht ausgeführt fände, aber in Säumen und einfacheren Bordüren,
also an Theilen, die nicht in's Auge fallen, sondern nur zur Trennung
oder neutralen Einfassung dienen sollten, begegnen uns fortwährend
die Gamma- Tau- und anderweitige geometrische Muster, gewiss nicht
infolge einer Reminiscenz an einstige textile Urmotive, sondern weil
es eben die am leichtesten und einfachsten darstellbaren Motive waren.

Die "geometrischen" Motive, soweit sie geradlinig nach den Regeln
des Rhythmus und der Symmetrie zusammengesetzt sind, erscheinen in
der That einer mit einfachen Mitteln arbeitenden Textilkunst als die
angemessensten. Daraus folgt aber bei weitem noch nicht, dass die be-
treffenden Muster ursprünglich nur einer textilen Technik eigenthüm-
lich und von dieser sozusagen geboren waren. Niemand vermag heute
zu sagen, ob die ältesten Linienornamente, wie wir sie etwa auf den
Geräthen der aquitanischen Höhlenbewohner vor Augen haben, zuerst
in Knochen geritzt, in Holz- oder Fruchtschalen geschnitten oder in die
Haut tätowirt worden sind.

Entgegen der bisherigen Anschauung vermag ich gar nichts so
Unnatürliches darin zu erblicken, dass auf die figuralen Schnitzereien
und Gravirungen der Steinzeit die geometrischen Verzierungen der sogen.
Bronzezeit gefolgt sein sollen12). Nachdem man einmal zur Kenntniss der

12) Einen analogen Vorgang glaubt Hjalmar Stolpe in der Ornamentik
gewisser polynesischer Inselvölker festgestellt zu haben: zuerst Nachbildung
der menschlichen Figur in Holz mittels Kerbschnitts, zunehmende Stilisirung
derselben, endlich Verwendung einzelner zu geometrischen Lineamenten ge-
wordener Glieder dieser Figuren zur selbständigen Vervielfältigung und
rhythmischen Reihung. Der bezügliche Aufsatz erschien zuerst in der Schwe-
dischen Zeitschrift "Ymer" und in deutscher Uebersetzung in den Mittheil. der
Wiener Anthropologischen Gesellsch. Jahrg. 1892 Heft 1 und 2. Der Vorgang
Stolpe's, einzelne begrenzte ornamentale Gebiete zur Bearbeitung vorzunehmen

Der geometrische Stil.
näckig, bis auf den heutigen Tag, erhalten haben. Zweifellos weil
diese Muster den textilen Techniken am besten entsprechen, oder besser
gesagt, weil es diesen Techniken schwerer als anderen fällt, über die
eckig gebrochenen linearen Muster hinauszugehen. Dass es nament-
lich in der Weberei schliesslich doch gelungen ist, leidlich abgerun-
dete Configurationen zu Stande zu bringen, ist bekannt: das mensch-
liche Kunstwollen erscheint eben von Anbeginn unablässig darauf
gerichtet die technischen Schranken zu brechen. Aber daneben blieb,
namentlich für geringere Waare das mit leichterer Mühe zu erreichende
geometrische Muster fortdauernd in Gebrauch. Man nehme nur die
spätantiken Wirkereien aus Egypten. Es giebt keine Rundung die man
daran nicht ausgeführt fände, aber in Säumen und einfacheren Bordüren,
also an Theilen, die nicht in’s Auge fallen, sondern nur zur Trennung
oder neutralen Einfassung dienen sollten, begegnen uns fortwährend
die Gamma- Tau- und anderweitige geometrische Muster, gewiss nicht
infolge einer Reminiscenz an einstige textile Urmotive, sondern weil
es eben die am leichtesten und einfachsten darstellbaren Motive waren.

Die „geometrischen“ Motive, soweit sie geradlinig nach den Regeln
des Rhythmus und der Symmetrie zusammengesetzt sind, erscheinen in
der That einer mit einfachen Mitteln arbeitenden Textilkunst als die
angemessensten. Daraus folgt aber bei weitem noch nicht, dass die be-
treffenden Muster ursprünglich nur einer textilen Technik eigenthüm-
lich und von dieser sozusagen geboren waren. Niemand vermag heute
zu sagen, ob die ältesten Linienornamente, wie wir sie etwa auf den
Geräthen der aquitanischen Höhlenbewohner vor Augen haben, zuerst
in Knochen geritzt, in Holz- oder Fruchtschalen geschnitten oder in die
Haut tätowirt worden sind.

Entgegen der bisherigen Anschauung vermag ich gar nichts so
Unnatürliches darin zu erblicken, dass auf die figuralen Schnitzereien
und Gravirungen der Steinzeit die geometrischen Verzierungen der sogen.
Bronzezeit gefolgt sein sollen12). Nachdem man einmal zur Kenntniss der

12) Einen analogen Vorgang glaubt Hjalmar Stolpe in der Ornamentik
gewisser polynesischer Inselvölker festgestellt zu haben: zuerst Nachbildung
der menschlichen Figur in Holz mittels Kerbschnitts, zunehmende Stilisirung
derselben, endlich Verwendung einzelner zu geometrischen Lineamenten ge-
wordener Glieder dieser Figuren zur selbständigen Vervielfältigung und
rhythmischen Reihung. Der bezügliche Aufsatz erschien zuerst in der Schwe-
dischen Zeitschrift „Ymer“ und in deutscher Uebersetzung in den Mittheil. der
Wiener Anthropologischen Gesellsch. Jahrg. 1892 Heft 1 und 2. Der Vorgang
Stolpe’s, einzelne begrenzte ornamentale Gebiete zur Bearbeitung vorzunehmen
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[29/0055] Der geometrische Stil. näckig, bis auf den heutigen Tag, erhalten haben. Zweifellos weil diese Muster den textilen Techniken am besten entsprechen, oder besser gesagt, weil es diesen Techniken schwerer als anderen fällt, über die eckig gebrochenen linearen Muster hinauszugehen. Dass es nament- lich in der Weberei schliesslich doch gelungen ist, leidlich abgerun- dete Configurationen zu Stande zu bringen, ist bekannt: das mensch- liche Kunstwollen erscheint eben von Anbeginn unablässig darauf gerichtet die technischen Schranken zu brechen. Aber daneben blieb, namentlich für geringere Waare das mit leichterer Mühe zu erreichende geometrische Muster fortdauernd in Gebrauch. Man nehme nur die spätantiken Wirkereien aus Egypten. Es giebt keine Rundung die man daran nicht ausgeführt fände, aber in Säumen und einfacheren Bordüren, also an Theilen, die nicht in’s Auge fallen, sondern nur zur Trennung oder neutralen Einfassung dienen sollten, begegnen uns fortwährend die Gamma- Tau- und anderweitige geometrische Muster, gewiss nicht infolge einer Reminiscenz an einstige textile Urmotive, sondern weil es eben die am leichtesten und einfachsten darstellbaren Motive waren. Die „geometrischen“ Motive, soweit sie geradlinig nach den Regeln des Rhythmus und der Symmetrie zusammengesetzt sind, erscheinen in der That einer mit einfachen Mitteln arbeitenden Textilkunst als die angemessensten. Daraus folgt aber bei weitem noch nicht, dass die be- treffenden Muster ursprünglich nur einer textilen Technik eigenthüm- lich und von dieser sozusagen geboren waren. Niemand vermag heute zu sagen, ob die ältesten Linienornamente, wie wir sie etwa auf den Geräthen der aquitanischen Höhlenbewohner vor Augen haben, zuerst in Knochen geritzt, in Holz- oder Fruchtschalen geschnitten oder in die Haut tätowirt worden sind. Entgegen der bisherigen Anschauung vermag ich gar nichts so Unnatürliches darin zu erblicken, dass auf die figuralen Schnitzereien und Gravirungen der Steinzeit die geometrischen Verzierungen der sogen. Bronzezeit gefolgt sein sollen 12). Nachdem man einmal zur Kenntniss der 12) Einen analogen Vorgang glaubt Hjalmar Stolpe in der Ornamentik gewisser polynesischer Inselvölker festgestellt zu haben: zuerst Nachbildung der menschlichen Figur in Holz mittels Kerbschnitts, zunehmende Stilisirung derselben, endlich Verwendung einzelner zu geometrischen Lineamenten ge- wordener Glieder dieser Figuren zur selbständigen Vervielfältigung und rhythmischen Reihung. Der bezügliche Aufsatz erschien zuerst in der Schwe- dischen Zeitschrift „Ymer“ und in deutscher Uebersetzung in den Mittheil. der Wiener Anthropologischen Gesellsch. Jahrg. 1892 Heft 1 und 2. Der Vorgang Stolpe’s, einzelne begrenzte ornamentale Gebiete zur Bearbeitung vorzunehmen

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/55>, abgerufen am 27.04.2024.