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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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Die Arabeske.
Werde- und Ausbildungsprocess derselben von einheitlichem Gesichts-
punkte aus darzustellen. Auf die lokale Provenienz des jeweilig ge-
wählten Beweismaterials wurde wenig Gewicht gelegt; zum überwiegen-
den Theile wurde dasselbe entlehnt von den Denkmälern in Kairo, wo
sich -- offenbar Dank dem unvergleichlichen Klima -- die reichste
und unversehrteste Auswahl davon erhalten hat. Zweifellos hat es
aber auch lokale Sonderentwicklungen gegeben, und Aufgabe der
weiteren Forschung wird es nun sein, den Differenzirungen in den
geographisch so weit verstreuten Gebieten der Islamvölker nachzu-
gehen, und das Trennende zwischen den einzelnen festzustellen. Aber
ich wiederhole es -- unsere Aufgabe war nach der entgegengesetzten
Seite gelegen: es galt erst einmal den historischen und genetischen
Zusammenhang in der Entwicklung des Pflanzenrankenornaments seit
antiker bis in die neuere Zeit aufzuzeigen, und zu diesem Behufe die
gemeinsamen grossen Gesichtspunkte, nicht die trennenden kleinen
Varianten, hervorzusuchen und festzustellen.

Diese Aufgabe glauben wir nun gelöst zu haben durch die Er-
bringung des Nachweises, dass die ausgebildete fertige Arabeske, wie
sie uns an kairenischen Kunstwerken vom Anfange des 15. Jahrh.
entgegentritt, in ihren scheinbar geometrischen Motiven einen unver-
kennbaren Kern von pflanzlicher Bedeutung birgt. Unsere Unter-
suchung in dem vorhergehenden, dritten Kapitel dieses Buches hat aber
ergeben, dass die Pflanzenornamentik seit dem für uns überhaupt kon-
trollirbaren Beginn menschlichen Kunstschaffens einen streng historischen
Gang eingehalten hat. Nachdem einmal in Folge etwelcher für uns
nicht mehr bestimmbarer -- vermuthlich gegenständlich symbolischer
-- Gründe das pflanzliche Element in die Dekoration eingeführt worden
war, haben die Kulturvölker die in historischer Reihenfolge die künst-
lerischen Errungenschaften ihrer Vorfahren übernahmen und weiter-
bildeten, in Bezug auf das Pflanzenornament immer bloss an die ihnen
von ihren Vorgängern überlieferten Typen angeknüpft, und dieselben
ihrerseits nach eigenem Kunstermessen ausgestaltet und ihren Nach-
folgern hinterlassen. Ein willkürliches Hineingreifen in das natürliche
Pflanzenreich behufs Schaffung von Ornamenten89) hat erstlich in dem
Ausmaasse, wie es gewöhnlich angenommen zu werden pflegt, über-
haupt niemals stattgefunden, oder wo dies dennoch90) der Fall gewesen

89) Also -- was wiederholt betont wurde -- nicht in gegenständlicher
Bedeutung.
90) Etwa in der mykenischen oder in der hellenistisch-römischen Kunst.

Die Arabeske.
Werde- und Ausbildungsprocess derselben von einheitlichem Gesichts-
punkte aus darzustellen. Auf die lokale Provenienz des jeweilig ge-
wählten Beweismaterials wurde wenig Gewicht gelegt; zum überwiegen-
den Theile wurde dasselbe entlehnt von den Denkmälern in Kairo, wo
sich — offenbar Dank dem unvergleichlichen Klima — die reichste
und unversehrteste Auswahl davon erhalten hat. Zweifellos hat es
aber auch lokale Sonderentwicklungen gegeben, und Aufgabe der
weiteren Forschung wird es nun sein, den Differenzirungen in den
geographisch so weit verstreuten Gebieten der Islamvölker nachzu-
gehen, und das Trennende zwischen den einzelnen festzustellen. Aber
ich wiederhole es — unsere Aufgabe war nach der entgegengesetzten
Seite gelegen: es galt erst einmal den historischen und genetischen
Zusammenhang in der Entwicklung des Pflanzenrankenornaments seit
antiker bis in die neuere Zeit aufzuzeigen, und zu diesem Behufe die
gemeinsamen grossen Gesichtspunkte, nicht die trennenden kleinen
Varianten, hervorzusuchen und festzustellen.

Diese Aufgabe glauben wir nun gelöst zu haben durch die Er-
bringung des Nachweises, dass die ausgebildete fertige Arabeske, wie
sie uns an kairenischen Kunstwerken vom Anfange des 15. Jahrh.
entgegentritt, in ihren scheinbar geometrischen Motiven einen unver-
kennbaren Kern von pflanzlicher Bedeutung birgt. Unsere Unter-
suchung in dem vorhergehenden, dritten Kapitel dieses Buches hat aber
ergeben, dass die Pflanzenornamentik seit dem für uns überhaupt kon-
trollirbaren Beginn menschlichen Kunstschaffens einen streng historischen
Gang eingehalten hat. Nachdem einmal in Folge etwelcher für uns
nicht mehr bestimmbarer — vermuthlich gegenständlich symbolischer
— Gründe das pflanzliche Element in die Dekoration eingeführt worden
war, haben die Kulturvölker die in historischer Reihenfolge die künst-
lerischen Errungenschaften ihrer Vorfahren übernahmen und weiter-
bildeten, in Bezug auf das Pflanzenornament immer bloss an die ihnen
von ihren Vorgängern überlieferten Typen angeknüpft, und dieselben
ihrerseits nach eigenem Kunstermessen ausgestaltet und ihren Nach-
folgern hinterlassen. Ein willkürliches Hineingreifen in das natürliche
Pflanzenreich behufs Schaffung von Ornamenten89) hat erstlich in dem
Ausmaasse, wie es gewöhnlich angenommen zu werden pflegt, über-
haupt niemals stattgefunden, oder wo dies dennoch90) der Fall gewesen

89) Also — was wiederholt betont wurde — nicht in gegenständlicher
Bedeutung.
90) Etwa in der mykenischen oder in der hellenistisch-römischen Kunst.
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[338/0364] Die Arabeske. Werde- und Ausbildungsprocess derselben von einheitlichem Gesichts- punkte aus darzustellen. Auf die lokale Provenienz des jeweilig ge- wählten Beweismaterials wurde wenig Gewicht gelegt; zum überwiegen- den Theile wurde dasselbe entlehnt von den Denkmälern in Kairo, wo sich — offenbar Dank dem unvergleichlichen Klima — die reichste und unversehrteste Auswahl davon erhalten hat. Zweifellos hat es aber auch lokale Sonderentwicklungen gegeben, und Aufgabe der weiteren Forschung wird es nun sein, den Differenzirungen in den geographisch so weit verstreuten Gebieten der Islamvölker nachzu- gehen, und das Trennende zwischen den einzelnen festzustellen. Aber ich wiederhole es — unsere Aufgabe war nach der entgegengesetzten Seite gelegen: es galt erst einmal den historischen und genetischen Zusammenhang in der Entwicklung des Pflanzenrankenornaments seit antiker bis in die neuere Zeit aufzuzeigen, und zu diesem Behufe die gemeinsamen grossen Gesichtspunkte, nicht die trennenden kleinen Varianten, hervorzusuchen und festzustellen. Diese Aufgabe glauben wir nun gelöst zu haben durch die Er- bringung des Nachweises, dass die ausgebildete fertige Arabeske, wie sie uns an kairenischen Kunstwerken vom Anfange des 15. Jahrh. entgegentritt, in ihren scheinbar geometrischen Motiven einen unver- kennbaren Kern von pflanzlicher Bedeutung birgt. Unsere Unter- suchung in dem vorhergehenden, dritten Kapitel dieses Buches hat aber ergeben, dass die Pflanzenornamentik seit dem für uns überhaupt kon- trollirbaren Beginn menschlichen Kunstschaffens einen streng historischen Gang eingehalten hat. Nachdem einmal in Folge etwelcher für uns nicht mehr bestimmbarer — vermuthlich gegenständlich symbolischer — Gründe das pflanzliche Element in die Dekoration eingeführt worden war, haben die Kulturvölker die in historischer Reihenfolge die künst- lerischen Errungenschaften ihrer Vorfahren übernahmen und weiter- bildeten, in Bezug auf das Pflanzenornament immer bloss an die ihnen von ihren Vorgängern überlieferten Typen angeknüpft, und dieselben ihrerseits nach eigenem Kunstermessen ausgestaltet und ihren Nach- folgern hinterlassen. Ein willkürliches Hineingreifen in das natürliche Pflanzenreich behufs Schaffung von Ornamenten 89) hat erstlich in dem Ausmaasse, wie es gewöhnlich angenommen zu werden pflegt, über- haupt niemals stattgefunden, oder wo dies dennoch 90) der Fall gewesen 89) Also — was wiederholt betont wurde — nicht in gegenständlicher Bedeutung. 90) Etwa in der mykenischen oder in der hellenistisch-römischen Kunst.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 338. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/364>, abgerufen am 05.12.2024.