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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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Der geometrische Stil.
weise F. Hirth's von den intensiven Beziehungen Chinas zum römischen
Kaiserreich ergeben haben3).

Aus alledem geht wenigstens das Eine hervor, dass die bedingungs-
lose Proscription der Wenigen, die es gelegentlich wagen, historische
Zusammenhänge in gewissen Varianten des geometrischen Stils zu er-
blicken, mindestens ungerechtfertigt ist. Die absolute Primitivität des
geometrischen Stils auf allen Punkten der Erdoberfläche und bei
allen Völkern, bei denen wir ihn antreffen, ist aber schlechtweg ab-
zuweisen. Das Dipylon z. B. ist gewiss ein geometrischer Stil, aber
keineswegs ein primitiver, vielmehr ein raffinirter. Die Völker sind zu
ungleich in ihrer Begabung für das Kunstschaffen, als dass nicht welche
einen Vorsprung vor den übrigen gehabt hätten; dann war aber wieder
der Nachahmungstrieb allzu mächtig, als dass die zurückgebliebenen
nicht den vorgeschrittenen mit Entlehnungen gefolgt wären. Damit
pflegt übrigens eine besonnene archäologische Forschung seit Langem
zu rechnen.

Kurz gefasst lässt sich somit über die geographische Seite der
Frage nach der Entstehung des geometrischen Stils ungefähr Folgendes
sagen. Es liegt kein zwingender Grund vor zur Annahme, dass die
geometrischen Kunstformen von einem einzigen Schöpfungscentrum aus
Verbreitung gefunden haben; die Möglichkeit verschiedener selbstän-
diger Entstehungspunkte bleibt vielmehr vorläufig unbestritten. Auf
dem Gebiete der Künste bei den Mittelmeervölkern dürfte weitgehende
wechselseitige Beeinflussung anzunehmen sein, was im Besonderen zu
begründen hier überflüssig ist, da es in einzelnen Punkten bereits auch
von archäologischer Seite nachgewiesen und anerkannt erscheint. Was
aber die geometrische Ornamentik bei den Naturvölkern betrifft, so ist
das bezügliche Material dermalen noch weit davon entfernt, um die
Frage als spruchreif erscheinen zu lassen.

Wir gehen nun an die Erörterung des zweiten Lehrsatzes, der
vom geometrischen Stil gilt: des Satzes vom Ursprung der charak-
teristischen Motive dieses Stils aus den textilen Techniken der
Flechterei und Weberei
. Dieser Satz galt seit Semper und Conze
als so unfehlbar, dass nicht bloss von keiner Seite ein auch nur be-
scheidener Zweifel daran geäussert wurde, sondern auch bis auf die

3) F. Hirth, China and the Roman Orient. -- Bezeichnend ist es mit Bezug
auf letzteren Umstand, dass trotz vielfacher zu Tage liegenden Analogien es
bisher noch Niemand gewagt hat, die entsprechenden Schlüsse auf kunst-
historischem Gebiete zu ziehen.

Der geometrische Stil.
weise F. Hirth’s von den intensiven Beziehungen Chinas zum römischen
Kaiserreich ergeben haben3).

Aus alledem geht wenigstens das Eine hervor, dass die bedingungs-
lose Proscription der Wenigen, die es gelegentlich wagen, historische
Zusammenhänge in gewissen Varianten des geometrischen Stils zu er-
blicken, mindestens ungerechtfertigt ist. Die absolute Primitivität des
geometrischen Stils auf allen Punkten der Erdoberfläche und bei
allen Völkern, bei denen wir ihn antreffen, ist aber schlechtweg ab-
zuweisen. Das Dipylon z. B. ist gewiss ein geometrischer Stil, aber
keineswegs ein primitiver, vielmehr ein raffinirter. Die Völker sind zu
ungleich in ihrer Begabung für das Kunstschaffen, als dass nicht welche
einen Vorsprung vor den übrigen gehabt hätten; dann war aber wieder
der Nachahmungstrieb allzu mächtig, als dass die zurückgebliebenen
nicht den vorgeschrittenen mit Entlehnungen gefolgt wären. Damit
pflegt übrigens eine besonnene archäologische Forschung seit Langem
zu rechnen.

Kurz gefasst lässt sich somit über die geographische Seite der
Frage nach der Entstehung des geometrischen Stils ungefähr Folgendes
sagen. Es liegt kein zwingender Grund vor zur Annahme, dass die
geometrischen Kunstformen von einem einzigen Schöpfungscentrum aus
Verbreitung gefunden haben; die Möglichkeit verschiedener selbstän-
diger Entstehungspunkte bleibt vielmehr vorläufig unbestritten. Auf
dem Gebiete der Künste bei den Mittelmeervölkern dürfte weitgehende
wechselseitige Beeinflussung anzunehmen sein, was im Besonderen zu
begründen hier überflüssig ist, da es in einzelnen Punkten bereits auch
von archäologischer Seite nachgewiesen und anerkannt erscheint. Was
aber die geometrische Ornamentik bei den Naturvölkern betrifft, so ist
das bezügliche Material dermalen noch weit davon entfernt, um die
Frage als spruchreif erscheinen zu lassen.

Wir gehen nun an die Erörterung des zweiten Lehrsatzes, der
vom geometrischen Stil gilt: des Satzes vom Ursprung der charak-
teristischen Motive dieses Stils aus den textilen Techniken der
Flechterei und Weberei
. Dieser Satz galt seit Semper und Conze
als so unfehlbar, dass nicht bloss von keiner Seite ein auch nur be-
scheidener Zweifel daran geäussert wurde, sondern auch bis auf die

3) F. Hirth, China and the Roman Orient. — Bezeichnend ist es mit Bezug
auf letzteren Umstand, dass trotz vielfacher zu Tage liegenden Analogien es
bisher noch Niemand gewagt hat, die entsprechenden Schlüsse auf kunst-
historischem Gebiete zu ziehen.
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[9/0035] Der geometrische Stil. weise F. Hirth’s von den intensiven Beziehungen Chinas zum römischen Kaiserreich ergeben haben 3). Aus alledem geht wenigstens das Eine hervor, dass die bedingungs- lose Proscription der Wenigen, die es gelegentlich wagen, historische Zusammenhänge in gewissen Varianten des geometrischen Stils zu er- blicken, mindestens ungerechtfertigt ist. Die absolute Primitivität des geometrischen Stils auf allen Punkten der Erdoberfläche und bei allen Völkern, bei denen wir ihn antreffen, ist aber schlechtweg ab- zuweisen. Das Dipylon z. B. ist gewiss ein geometrischer Stil, aber keineswegs ein primitiver, vielmehr ein raffinirter. Die Völker sind zu ungleich in ihrer Begabung für das Kunstschaffen, als dass nicht welche einen Vorsprung vor den übrigen gehabt hätten; dann war aber wieder der Nachahmungstrieb allzu mächtig, als dass die zurückgebliebenen nicht den vorgeschrittenen mit Entlehnungen gefolgt wären. Damit pflegt übrigens eine besonnene archäologische Forschung seit Langem zu rechnen. Kurz gefasst lässt sich somit über die geographische Seite der Frage nach der Entstehung des geometrischen Stils ungefähr Folgendes sagen. Es liegt kein zwingender Grund vor zur Annahme, dass die geometrischen Kunstformen von einem einzigen Schöpfungscentrum aus Verbreitung gefunden haben; die Möglichkeit verschiedener selbstän- diger Entstehungspunkte bleibt vielmehr vorläufig unbestritten. Auf dem Gebiete der Künste bei den Mittelmeervölkern dürfte weitgehende wechselseitige Beeinflussung anzunehmen sein, was im Besonderen zu begründen hier überflüssig ist, da es in einzelnen Punkten bereits auch von archäologischer Seite nachgewiesen und anerkannt erscheint. Was aber die geometrische Ornamentik bei den Naturvölkern betrifft, so ist das bezügliche Material dermalen noch weit davon entfernt, um die Frage als spruchreif erscheinen zu lassen. Wir gehen nun an die Erörterung des zweiten Lehrsatzes, der vom geometrischen Stil gilt: des Satzes vom Ursprung der charak- teristischen Motive dieses Stils aus den textilen Techniken der Flechterei und Weberei. Dieser Satz galt seit Semper und Conze als so unfehlbar, dass nicht bloss von keiner Seite ein auch nur be- scheidener Zweifel daran geäussert wurde, sondern auch bis auf die 3) F. Hirth, China and the Roman Orient. — Bezeichnend ist es mit Bezug auf letzteren Umstand, dass trotz vielfacher zu Tage liegenden Analogien es bisher noch Niemand gewagt hat, die entsprechenden Schlüsse auf kunst- historischem Gebiete zu ziehen.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/35>, abgerufen am 26.04.2024.