Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

Bild:
<< vorherige Seite

Der geometrische Stil.
Stelle2) wenigstens lässt sich Semper über die Entstehung des Musters
aus der Flechterei und Weberei in einer so bestimmten Weise vernehmen,
dass hinsichtlich seiner Meinung über den technisch-materiellen Ur-
sprung der geometrischen Ornamentik schliesslich doch kein Zweifel
übrig bleibt.

Semper's Theorie fand in den Kreisen der Kunstforschung bereit-
willigste Aufnahme. Schon der historisch-naturwissenschaftliche Sinn
unseres Zeitalters, der für alle Erscheinungen die Causalzusammenhänge
nach rückwärts zu ergründen sucht, musste sich befriedigt fühlen von
einer Hypothese, die für ein so eminent geistiges Gebiet wie es das-
jenige des Kunstschaffens ist, eine durch ihre Natürlichkeit und ver-
blüffende Einfachheit so bestechende Entstehungsursache anzugeben
wusste. Besonders eifrig wurde sie von der klassischen Archäologie
aufgegriffen, die sich eben in die Lage versetzt fand, sich mit den auf
griechischem Boden gefundenen vorklassischen Kunstschöpfungen aus-
einandersetzen zu müssen. Entscheidend hiefür war das Vorgehen
Conze's, der vor 20 Jahren Semper's Hypothese für die sogen. Vasen
des geometrischen Stils verwerthete: Conze ist auch bis zum heutigen
Tage der vornehmste Vertreter der vorhin entwickelten beiden Lehr-
sätze vom geometrischen Stil geblieben. So gross erschien diese Er-
rungenschaft, dass man sich vorerst mit einer allgemeinen Fassung der
Lehrsätze begnügte, eine nähere Untersuchung des Processes, eine Er-
örterung der Fragen, welche von den verschiedenen textilen Teckniken
hiebei in Frage käme, welche die ihr entsprechendsten geometrischen
Motive wären u. s. w., für überflüssig hielt. Erst in neuester Zeit wurde
der Versuch gemacht, auf diese Fragen etwas näher einzugehen, worauf
noch zurückzukommen sein wird; die Lehrsätze von der spontanen
Entstehung des geometrischen Stils auf verschiedenen Punkten aus
einer textilen Technik wurden aber auch von dieser Seite nicht
bloss nicht in Zweifel gestellt, sondern vielmehr erst recht zu beweisen
gesucht.

Wir wollen nun die heute allgemein geltenden Anschauungen vom
Ursprung des geometrischen Stils einer Prüfung auf ihre Stichhaltigkeit
unterziehen. Was zunächst den ersten der erwähnten beiden Lehrsätze
betrifft, der die Spontaneität der Entstehung des geometrischen
Stils an allen oder doch an den meisten jener Punkte, wo wir ihn
sei es noch heute antreffen, sei es seinen Spuren aus früheren Jahr-

2) Stil I. 213, worauf noch zurückzukommen sein wird.

Der geometrische Stil.
Stelle2) wenigstens lässt sich Semper über die Entstehung des Musters
aus der Flechterei und Weberei in einer so bestimmten Weise vernehmen,
dass hinsichtlich seiner Meinung über den technisch-materiellen Ur-
sprung der geometrischen Ornamentik schliesslich doch kein Zweifel
übrig bleibt.

Semper’s Theorie fand in den Kreisen der Kunstforschung bereit-
willigste Aufnahme. Schon der historisch-naturwissenschaftliche Sinn
unseres Zeitalters, der für alle Erscheinungen die Causalzusammenhänge
nach rückwärts zu ergründen sucht, musste sich befriedigt fühlen von
einer Hypothese, die für ein so eminent geistiges Gebiet wie es das-
jenige des Kunstschaffens ist, eine durch ihre Natürlichkeit und ver-
blüffende Einfachheit so bestechende Entstehungsursache anzugeben
wusste. Besonders eifrig wurde sie von der klassischen Archäologie
aufgegriffen, die sich eben in die Lage versetzt fand, sich mit den auf
griechischem Boden gefundenen vorklassischen Kunstschöpfungen aus-
einandersetzen zu müssen. Entscheidend hiefür war das Vorgehen
Conze’s, der vor 20 Jahren Semper’s Hypothese für die sogen. Vasen
des geometrischen Stils verwerthete: Conze ist auch bis zum heutigen
Tage der vornehmste Vertreter der vorhin entwickelten beiden Lehr-
sätze vom geometrischen Stil geblieben. So gross erschien diese Er-
rungenschaft, dass man sich vorerst mit einer allgemeinen Fassung der
Lehrsätze begnügte, eine nähere Untersuchung des Processes, eine Er-
örterung der Fragen, welche von den verschiedenen textilen Teckniken
hiebei in Frage käme, welche die ihr entsprechendsten geometrischen
Motive wären u. s. w., für überflüssig hielt. Erst in neuester Zeit wurde
der Versuch gemacht, auf diese Fragen etwas näher einzugehen, worauf
noch zurückzukommen sein wird; die Lehrsätze von der spontanen
Entstehung des geometrischen Stils auf verschiedenen Punkten aus
einer textilen Technik wurden aber auch von dieser Seite nicht
bloss nicht in Zweifel gestellt, sondern vielmehr erst recht zu beweisen
gesucht.

Wir wollen nun die heute allgemein geltenden Anschauungen vom
Ursprung des geometrischen Stils einer Prüfung auf ihre Stichhaltigkeit
unterziehen. Was zunächst den ersten der erwähnten beiden Lehrsätze
betrifft, der die Spontaneität der Entstehung des geometrischen
Stils an allen oder doch an den meisten jener Punkte, wo wir ihn
sei es noch heute antreffen, sei es seinen Spuren aus früheren Jahr-

2) Stil I. 213, worauf noch zurückzukommen sein wird.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0033" n="7"/><fw place="top" type="header">Der geometrische Stil.</fw><lb/>
Stelle<note place="foot" n="2)">Stil I. 213, worauf noch zurückzukommen sein wird.</note> wenigstens lässt sich Semper über die Entstehung des <hi rendition="#i">Musters</hi><lb/>
aus der Flechterei und Weberei in einer so bestimmten Weise vernehmen,<lb/>
dass hinsichtlich seiner Meinung über den technisch-materiellen Ur-<lb/>
sprung der geometrischen Ornamentik schliesslich doch kein Zweifel<lb/>
übrig bleibt.</p><lb/>
        <p>Semper&#x2019;s Theorie fand in den Kreisen der Kunstforschung bereit-<lb/>
willigste Aufnahme. Schon der historisch-naturwissenschaftliche Sinn<lb/>
unseres Zeitalters, der für alle Erscheinungen die Causalzusammenhänge<lb/>
nach rückwärts zu ergründen sucht, musste sich befriedigt fühlen von<lb/>
einer Hypothese, die für ein so eminent geistiges Gebiet wie es das-<lb/>
jenige des Kunstschaffens ist, eine durch ihre Natürlichkeit und ver-<lb/>
blüffende Einfachheit so bestechende Entstehungsursache anzugeben<lb/>
wusste. Besonders eifrig wurde sie von der klassischen Archäologie<lb/>
aufgegriffen, die sich eben in die Lage versetzt fand, sich mit den auf<lb/>
griechischem Boden gefundenen vorklassischen Kunstschöpfungen aus-<lb/>
einandersetzen zu müssen. Entscheidend hiefür war das Vorgehen<lb/><hi rendition="#g">Conze</hi>&#x2019;s, der vor 20 Jahren Semper&#x2019;s Hypothese für die sogen. Vasen<lb/>
des geometrischen Stils verwerthete: Conze ist auch bis zum heutigen<lb/>
Tage der vornehmste Vertreter der vorhin entwickelten beiden Lehr-<lb/>
sätze vom geometrischen Stil geblieben. So gross erschien diese Er-<lb/>
rungenschaft, dass man sich vorerst mit einer allgemeinen Fassung der<lb/>
Lehrsätze begnügte, eine nähere Untersuchung des Processes, eine Er-<lb/>
örterung der Fragen, welche von den verschiedenen textilen Teckniken<lb/>
hiebei in Frage käme, welche die ihr entsprechendsten geometrischen<lb/>
Motive wären u. s. w., für überflüssig hielt. Erst in neuester Zeit wurde<lb/>
der Versuch gemacht, auf diese Fragen etwas näher einzugehen, worauf<lb/>
noch zurückzukommen sein wird; die Lehrsätze von der spontanen<lb/>
Entstehung des geometrischen Stils auf verschiedenen Punkten aus<lb/>
einer textilen Technik wurden aber auch von dieser Seite nicht<lb/>
bloss nicht in Zweifel gestellt, sondern vielmehr erst recht zu beweisen<lb/>
gesucht.</p><lb/>
        <p>Wir wollen nun die heute allgemein geltenden Anschauungen vom<lb/>
Ursprung des geometrischen Stils einer Prüfung auf ihre Stichhaltigkeit<lb/>
unterziehen. Was zunächst den ersten der erwähnten beiden Lehrsätze<lb/>
betrifft, der die <hi rendition="#g">Spontaneität der Entstehung</hi> des geometrischen<lb/>
Stils an allen oder doch an den meisten jener Punkte, wo wir ihn<lb/>
sei es noch heute antreffen, sei es seinen Spuren aus früheren Jahr-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[7/0033] Der geometrische Stil. Stelle 2) wenigstens lässt sich Semper über die Entstehung des Musters aus der Flechterei und Weberei in einer so bestimmten Weise vernehmen, dass hinsichtlich seiner Meinung über den technisch-materiellen Ur- sprung der geometrischen Ornamentik schliesslich doch kein Zweifel übrig bleibt. Semper’s Theorie fand in den Kreisen der Kunstforschung bereit- willigste Aufnahme. Schon der historisch-naturwissenschaftliche Sinn unseres Zeitalters, der für alle Erscheinungen die Causalzusammenhänge nach rückwärts zu ergründen sucht, musste sich befriedigt fühlen von einer Hypothese, die für ein so eminent geistiges Gebiet wie es das- jenige des Kunstschaffens ist, eine durch ihre Natürlichkeit und ver- blüffende Einfachheit so bestechende Entstehungsursache anzugeben wusste. Besonders eifrig wurde sie von der klassischen Archäologie aufgegriffen, die sich eben in die Lage versetzt fand, sich mit den auf griechischem Boden gefundenen vorklassischen Kunstschöpfungen aus- einandersetzen zu müssen. Entscheidend hiefür war das Vorgehen Conze’s, der vor 20 Jahren Semper’s Hypothese für die sogen. Vasen des geometrischen Stils verwerthete: Conze ist auch bis zum heutigen Tage der vornehmste Vertreter der vorhin entwickelten beiden Lehr- sätze vom geometrischen Stil geblieben. So gross erschien diese Er- rungenschaft, dass man sich vorerst mit einer allgemeinen Fassung der Lehrsätze begnügte, eine nähere Untersuchung des Processes, eine Er- örterung der Fragen, welche von den verschiedenen textilen Teckniken hiebei in Frage käme, welche die ihr entsprechendsten geometrischen Motive wären u. s. w., für überflüssig hielt. Erst in neuester Zeit wurde der Versuch gemacht, auf diese Fragen etwas näher einzugehen, worauf noch zurückzukommen sein wird; die Lehrsätze von der spontanen Entstehung des geometrischen Stils auf verschiedenen Punkten aus einer textilen Technik wurden aber auch von dieser Seite nicht bloss nicht in Zweifel gestellt, sondern vielmehr erst recht zu beweisen gesucht. Wir wollen nun die heute allgemein geltenden Anschauungen vom Ursprung des geometrischen Stils einer Prüfung auf ihre Stichhaltigkeit unterziehen. Was zunächst den ersten der erwähnten beiden Lehrsätze betrifft, der die Spontaneität der Entstehung des geometrischen Stils an allen oder doch an den meisten jener Punkte, wo wir ihn sei es noch heute antreffen, sei es seinen Spuren aus früheren Jahr- 2) Stil I. 213, worauf noch zurückzukommen sein wird.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/33
Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/33>, abgerufen am 24.04.2024.