Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

Bild:
<< vorherige Seite

Der geometrische Stil.
lassen. Und zwar musste es etwas Greifbares, Materielles gewesen sein;
der blosse Hinweis auf unfassbare psychische Vorgänge hätte nicht als
Lösung gegolten. In der freien Natur durfte man das anstossgebende
Etwas nicht suchen; die abstrakten linearen Gebilde des geometrischen
Stils liegen doch in der Natur nicht offen zu Tage, und um sie aus
ihrem latenten Dasein in der Natur zu einem selbständigen in der
Kunst zu befreien, dazu hätte es eines bewussten seelischen Vorgangs
bedurft, dessen Dazwischenkunft man doch um jeden Preis vermeiden
wollte. Es blieben also von greifbaren Dingen bloss die Werke von
Menschenhand übrig. Da es sich hiebei um Vorgänge in den primi-
tivsten Werdezeiten des Menschengeschlechts handelte, konnten nur
allerprimitivste Werke von Menschenhand, allernothwendigste Produkte
eines elementaren Bedürfnisstriebes in Frage kommen. Als einen solchen
Trieb glaubte man denjenigen nach Schutz des Leibes ansehen zu dürfen.
Gegenüber der feindlichen Aussenwelt mochte sich der Mensch früh-
zeitig durch den geflochtenen Zaun abgesperrt haben; Schutz vor den
Unbilden der Witterung mochte er nicht minder frühzeitig in Geweben
gesucht haben.

Nun sind aber gerade Flechterei und Weberei diejenigen tech-
nischen Künste, die durch die bei ihnen obwaltenden technischen Pro-
ceduren ganz besonders auf die Hervorbringung linearer Ornamente
beschränkt erscheinen. Wie, wenn im Kreuzgeflechte des Ruthenzauns
und des grob gewebten Gewandes die linearen Motive des geometrischen
Stils zuerst dem Menschen vor Augen getreten wären? Eine glückliche
Combination von farbigen Halmen hätte dann etwa eine Zickzacklinie
zu Wege gebracht. Wohlgefällig mochte der Mensch die Symmetrie
der Schrägbalken und ihre rhythmische Wiederkehr betrachtet haben.
Freilich, wenn man die Frage stellen wollte, woher wohl dieses Wohl-
gefallen stammen, wodurch es im primitiven Menschen erweckt worden
sein mochte, war der menschliche Witz am Ende angelangt. Aber man
glaubte sich schon mit dem soweit Gewonnenen begnügen zu dürfen.
Auf unbewusste, nicht spekulative Weise, bloss von der Nothdurft eines
rein praktischen Zweckes geleitet, hatte die Menschenhand -- so rai-
sonnirte man -- die ersten geometrischen Verzierungen zu Wege ge-
bracht. Sie waren einmal da, und der Mensch konnte sie nachahmen,
gleichgiltig aus welchem Grunde. Formte er einen Becher aus ange-
feuchtetem Thon, so konnte er die Zickzacklinie hineingraben; am
Thonbecher war sie zwar nicht durch die Nothdurft des Zweckes ge-
boten, wie die Fadenkreuzungen bei den textilen Techniken, aber sie

Der geometrische Stil.
lassen. Und zwar musste es etwas Greifbares, Materielles gewesen sein;
der blosse Hinweis auf unfassbare psychische Vorgänge hätte nicht als
Lösung gegolten. In der freien Natur durfte man das anstossgebende
Etwas nicht suchen; die abstrakten linearen Gebilde des geometrischen
Stils liegen doch in der Natur nicht offen zu Tage, und um sie aus
ihrem latenten Dasein in der Natur zu einem selbständigen in der
Kunst zu befreien, dazu hätte es eines bewussten seelischen Vorgangs
bedurft, dessen Dazwischenkunft man doch um jeden Preis vermeiden
wollte. Es blieben also von greifbaren Dingen bloss die Werke von
Menschenhand übrig. Da es sich hiebei um Vorgänge in den primi-
tivsten Werdezeiten des Menschengeschlechts handelte, konnten nur
allerprimitivste Werke von Menschenhand, allernothwendigste Produkte
eines elementaren Bedürfnisstriebes in Frage kommen. Als einen solchen
Trieb glaubte man denjenigen nach Schutz des Leibes ansehen zu dürfen.
Gegenüber der feindlichen Aussenwelt mochte sich der Mensch früh-
zeitig durch den geflochtenen Zaun abgesperrt haben; Schutz vor den
Unbilden der Witterung mochte er nicht minder frühzeitig in Geweben
gesucht haben.

Nun sind aber gerade Flechterei und Weberei diejenigen tech-
nischen Künste, die durch die bei ihnen obwaltenden technischen Pro-
ceduren ganz besonders auf die Hervorbringung linearer Ornamente
beschränkt erscheinen. Wie, wenn im Kreuzgeflechte des Ruthenzauns
und des grob gewebten Gewandes die linearen Motive des geometrischen
Stils zuerst dem Menschen vor Augen getreten wären? Eine glückliche
Combination von farbigen Halmen hätte dann etwa eine Zickzacklinie
zu Wege gebracht. Wohlgefällig mochte der Mensch die Symmetrie
der Schrägbalken und ihre rhythmische Wiederkehr betrachtet haben.
Freilich, wenn man die Frage stellen wollte, woher wohl dieses Wohl-
gefallen stammen, wodurch es im primitiven Menschen erweckt worden
sein mochte, war der menschliche Witz am Ende angelangt. Aber man
glaubte sich schon mit dem soweit Gewonnenen begnügen zu dürfen.
Auf unbewusste, nicht spekulative Weise, bloss von der Nothdurft eines
rein praktischen Zweckes geleitet, hatte die Menschenhand — so rai-
sonnirte man — die ersten geometrischen Verzierungen zu Wege ge-
bracht. Sie waren einmal da, und der Mensch konnte sie nachahmen,
gleichgiltig aus welchem Grunde. Formte er einen Becher aus ange-
feuchtetem Thon, so konnte er die Zickzacklinie hineingraben; am
Thonbecher war sie zwar nicht durch die Nothdurft des Zweckes ge-
boten, wie die Fadenkreuzungen bei den textilen Techniken, aber sie

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0031" n="5"/><fw place="top" type="header">Der geometrische Stil.</fw><lb/>
lassen. Und zwar musste es etwas Greifbares, Materielles gewesen sein;<lb/>
der blosse Hinweis auf unfassbare psychische Vorgänge hätte nicht als<lb/>
Lösung gegolten. In der freien Natur durfte man das anstossgebende<lb/>
Etwas nicht suchen; die abstrakten linearen Gebilde des geometrischen<lb/>
Stils liegen doch in der Natur nicht offen zu Tage, und um sie aus<lb/>
ihrem latenten Dasein in der Natur zu einem selbständigen in der<lb/>
Kunst zu befreien, dazu hätte es eines bewussten seelischen Vorgangs<lb/>
bedurft, dessen Dazwischenkunft man doch um jeden Preis vermeiden<lb/>
wollte. Es blieben also von greifbaren Dingen bloss die Werke von<lb/>
Menschenhand übrig. Da es sich hiebei um Vorgänge in den primi-<lb/>
tivsten Werdezeiten des Menschengeschlechts handelte, konnten nur<lb/>
allerprimitivste Werke von Menschenhand, allernothwendigste Produkte<lb/>
eines elementaren Bedürfnisstriebes in Frage kommen. Als einen solchen<lb/>
Trieb glaubte man denjenigen nach Schutz des Leibes ansehen zu dürfen.<lb/>
Gegenüber der feindlichen Aussenwelt mochte sich der Mensch früh-<lb/>
zeitig durch den geflochtenen Zaun abgesperrt haben; Schutz vor den<lb/>
Unbilden der Witterung mochte er nicht minder frühzeitig in Geweben<lb/>
gesucht haben.</p><lb/>
        <p>Nun sind aber gerade Flechterei und Weberei diejenigen tech-<lb/>
nischen Künste, die durch die bei ihnen obwaltenden technischen Pro-<lb/>
ceduren ganz besonders auf die Hervorbringung linearer Ornamente<lb/>
beschränkt erscheinen. Wie, wenn im Kreuzgeflechte des Ruthenzauns<lb/>
und des grob gewebten Gewandes die linearen Motive des geometrischen<lb/>
Stils zuerst dem Menschen vor Augen getreten wären? Eine glückliche<lb/>
Combination von farbigen Halmen hätte dann etwa eine Zickzacklinie<lb/>
zu Wege gebracht. Wohlgefällig mochte der Mensch die Symmetrie<lb/>
der Schrägbalken und ihre rhythmische Wiederkehr betrachtet haben.<lb/>
Freilich, wenn man die Frage stellen wollte, woher wohl dieses Wohl-<lb/>
gefallen stammen, wodurch es im primitiven Menschen erweckt worden<lb/>
sein mochte, war der menschliche Witz am Ende angelangt. Aber man<lb/>
glaubte sich schon mit dem soweit Gewonnenen begnügen zu dürfen.<lb/>
Auf unbewusste, nicht spekulative Weise, bloss von der Nothdurft eines<lb/>
rein praktischen Zweckes geleitet, hatte die Menschenhand &#x2014; so rai-<lb/>
sonnirte man &#x2014; die ersten geometrischen Verzierungen zu Wege ge-<lb/>
bracht. Sie waren einmal da, und der Mensch <hi rendition="#g">konnte</hi> sie nachahmen,<lb/>
gleichgiltig aus welchem Grunde. Formte er einen Becher aus ange-<lb/>
feuchtetem Thon, so konnte er die Zickzacklinie hineingraben; am<lb/>
Thonbecher war sie zwar nicht durch die Nothdurft des Zweckes ge-<lb/>
boten, wie die Fadenkreuzungen bei den textilen Techniken, aber sie<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[5/0031] Der geometrische Stil. lassen. Und zwar musste es etwas Greifbares, Materielles gewesen sein; der blosse Hinweis auf unfassbare psychische Vorgänge hätte nicht als Lösung gegolten. In der freien Natur durfte man das anstossgebende Etwas nicht suchen; die abstrakten linearen Gebilde des geometrischen Stils liegen doch in der Natur nicht offen zu Tage, und um sie aus ihrem latenten Dasein in der Natur zu einem selbständigen in der Kunst zu befreien, dazu hätte es eines bewussten seelischen Vorgangs bedurft, dessen Dazwischenkunft man doch um jeden Preis vermeiden wollte. Es blieben also von greifbaren Dingen bloss die Werke von Menschenhand übrig. Da es sich hiebei um Vorgänge in den primi- tivsten Werdezeiten des Menschengeschlechts handelte, konnten nur allerprimitivste Werke von Menschenhand, allernothwendigste Produkte eines elementaren Bedürfnisstriebes in Frage kommen. Als einen solchen Trieb glaubte man denjenigen nach Schutz des Leibes ansehen zu dürfen. Gegenüber der feindlichen Aussenwelt mochte sich der Mensch früh- zeitig durch den geflochtenen Zaun abgesperrt haben; Schutz vor den Unbilden der Witterung mochte er nicht minder frühzeitig in Geweben gesucht haben. Nun sind aber gerade Flechterei und Weberei diejenigen tech- nischen Künste, die durch die bei ihnen obwaltenden technischen Pro- ceduren ganz besonders auf die Hervorbringung linearer Ornamente beschränkt erscheinen. Wie, wenn im Kreuzgeflechte des Ruthenzauns und des grob gewebten Gewandes die linearen Motive des geometrischen Stils zuerst dem Menschen vor Augen getreten wären? Eine glückliche Combination von farbigen Halmen hätte dann etwa eine Zickzacklinie zu Wege gebracht. Wohlgefällig mochte der Mensch die Symmetrie der Schrägbalken und ihre rhythmische Wiederkehr betrachtet haben. Freilich, wenn man die Frage stellen wollte, woher wohl dieses Wohl- gefallen stammen, wodurch es im primitiven Menschen erweckt worden sein mochte, war der menschliche Witz am Ende angelangt. Aber man glaubte sich schon mit dem soweit Gewonnenen begnügen zu dürfen. Auf unbewusste, nicht spekulative Weise, bloss von der Nothdurft eines rein praktischen Zweckes geleitet, hatte die Menschenhand — so rai- sonnirte man — die ersten geometrischen Verzierungen zu Wege ge- bracht. Sie waren einmal da, und der Mensch konnte sie nachahmen, gleichgiltig aus welchem Grunde. Formte er einen Becher aus ange- feuchtetem Thon, so konnte er die Zickzacklinie hineingraben; am Thonbecher war sie zwar nicht durch die Nothdurft des Zweckes ge- boten, wie die Fadenkreuzungen bei den textilen Techniken, aber sie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/31
Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/31>, abgerufen am 24.04.2024.