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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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Der geometrische Stil.
schaffen als das ältere, primitivere, das in der Fläche bildende als das
jüngere, raffinirtere bezeichnen dürfen. Etwa ein Thier in feuchtem
Thon schlecht und recht nachzumodelliren, dazu bedurfte es, nachdem
einmal der Nachahmungstrieb im Menschen vorhanden war, keiner
höheren Bethätigung des menschlichen Witzes, da das Vorbild -- das
lebende Thier -- in der Natur fertig vorlag. Als es sich aber zum
ersten Male darum handelte, dasselbe Thier auf eine gegebene
Fläche zu zeichnen, zu ritzen, zu malen, bedurfte es einer geradezu
schöpferischen That. Denn nicht der vorbildlich vorhandene Körper
wurde in diesem Falle nachgebildet, sondern die Silhouette, die Um-
risslinie
, die in Wirklichkeit nicht existirt und vom Menschen erst
frei erfunden werden musste 1). Von diesem Augenblicke an gewann
die Kunst erst recht ihre unendliche Darstellungsfähigkeit; indem man
die Körperlichkeit preisgab und sich mit dem Schein begnügte, that
man den wesentlichsten Schritt, die Phantasie von dem Zwange der
strengen Beobachtung der realen Naturformen zu befreien und sie zu
einer freieren Behandlung und Combinirung dieser Naturformen hin-
zuleiten.

Mag nun ein dekoratives Kunstgebilde von emancipirter Form-
gebung noch so wunderlich erscheinen, in den einzelnen Theilen bricht
doch immer das reale, aus der Natur entlehnte Vorbild hindurch. Dies
gilt sowohl von den in der Fläche dargestellten, als von den plasti-
schen Kunstformen. Die Schlangenfüsse des Giganten z. B. sind nicht
minder von Naturvorbildern abhängig, als sein menschlicher Ober-
körper, wenngleich das Ganze, der Gigant, in der realen Welt nicht
existirt. Ebenso gehen die völlig in linearem Schema gehaltenen drei-
spältigen Blüthen, etwa auf kyprischen Vasen, ganz bestimmt auf das
Naturvorbild der Lotusblüthe zurück, mochte nun der Zusammenhang
mit jener bestimmten Species der egyptischen Flora den kyprischen
Töpfern bewusst gewesen sein oder nicht.

Also die Natur blieb für die Kunstformen auch dann noch vor-
bildlich, als dieselben die Tiefendimension preisgegeben und die in
der Wirklichkeit nicht existirende umgrenzende Linie zum Elemente
ihrer Darstellung gemacht hatten. In Umrisslinien dargestellte Thier-

1) Von Hottentotten und Australnegern wissen die Reisenden vielfach
zu berichten, dass sie ihr eigenes Bild in Zeichnung oder Photographie nicht
erkennen: sie vermögen eben die Dinge nur körperlich, aber nicht in die Fläche
gebannt, ohne Tiefendimension, aufzufassen -- ein Beweis, dass für letzteres
bereits eine vorgeschrittene Kulturstufe vorausgesetzt werden muss.

Der geometrische Stil.
schaffen als das ältere, primitivere, das in der Fläche bildende als das
jüngere, raffinirtere bezeichnen dürfen. Etwa ein Thier in feuchtem
Thon schlecht und recht nachzumodelliren, dazu bedurfte es, nachdem
einmal der Nachahmungstrieb im Menschen vorhanden war, keiner
höheren Bethätigung des menschlichen Witzes, da das Vorbild — das
lebende Thier — in der Natur fertig vorlag. Als es sich aber zum
ersten Male darum handelte, dasselbe Thier auf eine gegebene
Fläche zu zeichnen, zu ritzen, zu malen, bedurfte es einer geradezu
schöpferischen That. Denn nicht der vorbildlich vorhandene Körper
wurde in diesem Falle nachgebildet, sondern die Silhouette, die Um-
risslinie
, die in Wirklichkeit nicht existirt und vom Menschen erst
frei erfunden werden musste 1). Von diesem Augenblicke an gewann
die Kunst erst recht ihre unendliche Darstellungsfähigkeit; indem man
die Körperlichkeit preisgab und sich mit dem Schein begnügte, that
man den wesentlichsten Schritt, die Phantasie von dem Zwange der
strengen Beobachtung der realen Naturformen zu befreien und sie zu
einer freieren Behandlung und Combinirung dieser Naturformen hin-
zuleiten.

Mag nun ein dekoratives Kunstgebilde von emancipirter Form-
gebung noch so wunderlich erscheinen, in den einzelnen Theilen bricht
doch immer das reale, aus der Natur entlehnte Vorbild hindurch. Dies
gilt sowohl von den in der Fläche dargestellten, als von den plasti-
schen Kunstformen. Die Schlangenfüsse des Giganten z. B. sind nicht
minder von Naturvorbildern abhängig, als sein menschlicher Ober-
körper, wenngleich das Ganze, der Gigant, in der realen Welt nicht
existirt. Ebenso gehen die völlig in linearem Schema gehaltenen drei-
spältigen Blüthen, etwa auf kyprischen Vasen, ganz bestimmt auf das
Naturvorbild der Lotusblüthe zurück, mochte nun der Zusammenhang
mit jener bestimmten Species der egyptischen Flora den kyprischen
Töpfern bewusst gewesen sein oder nicht.

Also die Natur blieb für die Kunstformen auch dann noch vor-
bildlich, als dieselben die Tiefendimension preisgegeben und die in
der Wirklichkeit nicht existirende umgrenzende Linie zum Elemente
ihrer Darstellung gemacht hatten. In Umrisslinien dargestellte Thier-

1) Von Hottentotten und Australnegern wissen die Reisenden vielfach
zu berichten, dass sie ihr eigenes Bild in Zeichnung oder Photographie nicht
erkennen: sie vermögen eben die Dinge nur körperlich, aber nicht in die Fläche
gebannt, ohne Tiefendimension, aufzufassen — ein Beweis, dass für letzteres
bereits eine vorgeschrittene Kulturstufe vorausgesetzt werden muss.
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[2/0028] Der geometrische Stil. schaffen als das ältere, primitivere, das in der Fläche bildende als das jüngere, raffinirtere bezeichnen dürfen. Etwa ein Thier in feuchtem Thon schlecht und recht nachzumodelliren, dazu bedurfte es, nachdem einmal der Nachahmungstrieb im Menschen vorhanden war, keiner höheren Bethätigung des menschlichen Witzes, da das Vorbild — das lebende Thier — in der Natur fertig vorlag. Als es sich aber zum ersten Male darum handelte, dasselbe Thier auf eine gegebene Fläche zu zeichnen, zu ritzen, zu malen, bedurfte es einer geradezu schöpferischen That. Denn nicht der vorbildlich vorhandene Körper wurde in diesem Falle nachgebildet, sondern die Silhouette, die Um- risslinie, die in Wirklichkeit nicht existirt und vom Menschen erst frei erfunden werden musste 1). Von diesem Augenblicke an gewann die Kunst erst recht ihre unendliche Darstellungsfähigkeit; indem man die Körperlichkeit preisgab und sich mit dem Schein begnügte, that man den wesentlichsten Schritt, die Phantasie von dem Zwange der strengen Beobachtung der realen Naturformen zu befreien und sie zu einer freieren Behandlung und Combinirung dieser Naturformen hin- zuleiten. Mag nun ein dekoratives Kunstgebilde von emancipirter Form- gebung noch so wunderlich erscheinen, in den einzelnen Theilen bricht doch immer das reale, aus der Natur entlehnte Vorbild hindurch. Dies gilt sowohl von den in der Fläche dargestellten, als von den plasti- schen Kunstformen. Die Schlangenfüsse des Giganten z. B. sind nicht minder von Naturvorbildern abhängig, als sein menschlicher Ober- körper, wenngleich das Ganze, der Gigant, in der realen Welt nicht existirt. Ebenso gehen die völlig in linearem Schema gehaltenen drei- spältigen Blüthen, etwa auf kyprischen Vasen, ganz bestimmt auf das Naturvorbild der Lotusblüthe zurück, mochte nun der Zusammenhang mit jener bestimmten Species der egyptischen Flora den kyprischen Töpfern bewusst gewesen sein oder nicht. Also die Natur blieb für die Kunstformen auch dann noch vor- bildlich, als dieselben die Tiefendimension preisgegeben und die in der Wirklichkeit nicht existirende umgrenzende Linie zum Elemente ihrer Darstellung gemacht hatten. In Umrisslinien dargestellte Thier- 1) Von Hottentotten und Australnegern wissen die Reisenden vielfach zu berichten, dass sie ihr eigenes Bild in Zeichnung oder Photographie nicht erkennen: sie vermögen eben die Dinge nur körperlich, aber nicht in die Fläche gebannt, ohne Tiefendimension, aufzufassen — ein Beweis, dass für letzteres bereits eine vorgeschrittene Kulturstufe vorausgesetzt werden muss.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/28>, abgerufen am 29.03.2024.