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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
daher unbedingt der Stackelberg'schen Reproduktion den Vorzug geben,
zumal sich der Autor auch im Texte auf S. 42 über die Form der
Blätter ausspricht und damit beweist, dass er sich dieselben genau
angesehen hat: "Die Blätter des Säulenknaufs sind weder vom Oelbaum,
noch Akanthus, sondern vielmehr von einer konventionellen Form,
einer Wasserpflanze im Steinsinn
nachgebildet". Es ist über-
raschend, wie nahe gerade dieser erste Beobachter und Beurtheiler
dieses Kapitäls der Erkenntniss des wahren Sachverhaltes gekommen
ist. Selbst mit der Wasserpflanze trifft er, wenngleich wahrscheinlich
unbewusst, das Richtige, da ja die Palmette auf den Lotus zurückgeht.
Der Zusatz "im Steinsinn" verräth aber deutlich, wie Stackelberg schon
intuitiv das plastische Moment als das formbereitende für die Stilisirung
dieser "konventionellen Form" erkannt hat36).

Am Kapitäl von Phigalia haben wir es durchweg mit vollen
Akanthus-Palmetten zu thun. Der Akanthus kommt aber auf demselben
Bauwerke auch in Kelchform wie am Erechtheion vor, für die wir die
halbe Palmette als zu Grunde liegend erkannt haben. Stackelberg37)
giebt ein Simastück auf S. 45, einen Stirnziegel auf S. 101. Damit
stimmen die Aufnahmen von Donaldson38) überein, worin wir wohl
einen neuerlichen Beweis dafür erblicken können, dass auch das Ka-
pitäl die gleiche Stilisirung des Akanthus gezeigt hahen wird. Beson-
ders deutlich ist der Stirnziegel a. a. O. Fig. 4 auf Taf. 5 gezeichnet:
hier sieht man nämlich mit vollster Deutlichkeit, dass die ausspringenden
spitzen Zacken der gezeichneten Konturen am plastischen Original in
der That eingekerbte, also zurückspringende Furchen bedeuten und dass
das Vorspringende in letzterem Falle die Blattrippen des Fächers sind.

Neben den architektonischen Ziergliedern und den Akroterien der
Grabstelen kommen für die älteste Geschichte des Akanthus hauptsäch-
lich die bemalten attischen Lekythen in Betracht. Es hängt be-
kanntlich mit dem Sepulkralcharakter dieser Vasengattung zusammen,
dass gewöhnlich in der Mitte des -- gleichfalls auf Bestattung und
Todtenkult bezüglichen -- Bildes eine Grabstele sich befindet, zu deren

36) Die Reproduktionen nach Donaldson haben die ursprüngliche Gestalt
des Kapitäls noch mehr verballhornt. So sehen wir z. B. bei Durm, Baukunst
der Griechen, an der Basis eine doppelte Reihe von Akanthusblättern, die in
der vollkommen ausgebildeten Weise des Lysikrates-Monuments stilisirt er-
scheinen.
37) Apollotempel zu Bassae.
38) Stuart und Revett, Taf. 4 und 5.

B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
daher unbedingt der Stackelberg’schen Reproduktion den Vorzug geben,
zumal sich der Autor auch im Texte auf S. 42 über die Form der
Blätter ausspricht und damit beweist, dass er sich dieselben genau
angesehen hat: „Die Blätter des Säulenknaufs sind weder vom Oelbaum,
noch Akanthus, sondern vielmehr von einer konventionellen Form,
einer Wasserpflanze im Steinsinn
nachgebildet“. Es ist über-
raschend, wie nahe gerade dieser erste Beobachter und Beurtheiler
dieses Kapitäls der Erkenntniss des wahren Sachverhaltes gekommen
ist. Selbst mit der Wasserpflanze trifft er, wenngleich wahrscheinlich
unbewusst, das Richtige, da ja die Palmette auf den Lotus zurückgeht.
Der Zusatz „im Steinsinn“ verräth aber deutlich, wie Stackelberg schon
intuitiv das plastische Moment als das formbereitende für die Stilisirung
dieser „konventionellen Form“ erkannt hat36).

Am Kapitäl von Phigalia haben wir es durchweg mit vollen
Akanthus-Palmetten zu thun. Der Akanthus kommt aber auf demselben
Bauwerke auch in Kelchform wie am Erechtheion vor, für die wir die
halbe Palmette als zu Grunde liegend erkannt haben. Stackelberg37)
giebt ein Simastück auf S. 45, einen Stirnziegel auf S. 101. Damit
stimmen die Aufnahmen von Donaldson38) überein, worin wir wohl
einen neuerlichen Beweis dafür erblicken können, dass auch das Ka-
pitäl die gleiche Stilisirung des Akanthus gezeigt hahen wird. Beson-
ders deutlich ist der Stirnziegel a. a. O. Fig. 4 auf Taf. 5 gezeichnet:
hier sieht man nämlich mit vollster Deutlichkeit, dass die ausspringenden
spitzen Zacken der gezeichneten Konturen am plastischen Original in
der That eingekerbte, also zurückspringende Furchen bedeuten und dass
das Vorspringende in letzterem Falle die Blattrippen des Fächers sind.

Neben den architektonischen Ziergliedern und den Akroterien der
Grabstelen kommen für die älteste Geschichte des Akanthus hauptsäch-
lich die bemalten attischen Lekythen in Betracht. Es hängt be-
kanntlich mit dem Sepulkralcharakter dieser Vasengattung zusammen,
dass gewöhnlich in der Mitte des — gleichfalls auf Bestattung und
Todtenkult bezüglichen — Bildes eine Grabstele sich befindet, zu deren

36) Die Reproduktionen nach Donaldson haben die ursprüngliche Gestalt
des Kapitäls noch mehr verballhornt. So sehen wir z. B. bei Durm, Baukunst
der Griechen, an der Basis eine doppelte Reihe von Akanthusblättern, die in
der vollkommen ausgebildeten Weise des Lysikrates-Monuments stilisirt er-
scheinen.
37) Apollotempel zu Bassae.
38) Stuart und Revett, Taf. 4 und 5.
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[226/0252] B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst. daher unbedingt der Stackelberg’schen Reproduktion den Vorzug geben, zumal sich der Autor auch im Texte auf S. 42 über die Form der Blätter ausspricht und damit beweist, dass er sich dieselben genau angesehen hat: „Die Blätter des Säulenknaufs sind weder vom Oelbaum, noch Akanthus, sondern vielmehr von einer konventionellen Form, einer Wasserpflanze im Steinsinn nachgebildet“. Es ist über- raschend, wie nahe gerade dieser erste Beobachter und Beurtheiler dieses Kapitäls der Erkenntniss des wahren Sachverhaltes gekommen ist. Selbst mit der Wasserpflanze trifft er, wenngleich wahrscheinlich unbewusst, das Richtige, da ja die Palmette auf den Lotus zurückgeht. Der Zusatz „im Steinsinn“ verräth aber deutlich, wie Stackelberg schon intuitiv das plastische Moment als das formbereitende für die Stilisirung dieser „konventionellen Form“ erkannt hat 36). Am Kapitäl von Phigalia haben wir es durchweg mit vollen Akanthus-Palmetten zu thun. Der Akanthus kommt aber auf demselben Bauwerke auch in Kelchform wie am Erechtheion vor, für die wir die halbe Palmette als zu Grunde liegend erkannt haben. Stackelberg 37) giebt ein Simastück auf S. 45, einen Stirnziegel auf S. 101. Damit stimmen die Aufnahmen von Donaldson 38) überein, worin wir wohl einen neuerlichen Beweis dafür erblicken können, dass auch das Ka- pitäl die gleiche Stilisirung des Akanthus gezeigt hahen wird. Beson- ders deutlich ist der Stirnziegel a. a. O. Fig. 4 auf Taf. 5 gezeichnet: hier sieht man nämlich mit vollster Deutlichkeit, dass die ausspringenden spitzen Zacken der gezeichneten Konturen am plastischen Original in der That eingekerbte, also zurückspringende Furchen bedeuten und dass das Vorspringende in letzterem Falle die Blattrippen des Fächers sind. Neben den architektonischen Ziergliedern und den Akroterien der Grabstelen kommen für die älteste Geschichte des Akanthus hauptsäch- lich die bemalten attischen Lekythen in Betracht. Es hängt be- kanntlich mit dem Sepulkralcharakter dieser Vasengattung zusammen, dass gewöhnlich in der Mitte des — gleichfalls auf Bestattung und Todtenkult bezüglichen — Bildes eine Grabstele sich befindet, zu deren 36) Die Reproduktionen nach Donaldson haben die ursprüngliche Gestalt des Kapitäls noch mehr verballhornt. So sehen wir z. B. bei Durm, Baukunst der Griechen, an der Basis eine doppelte Reihe von Akanthusblättern, die in der vollkommen ausgebildeten Weise des Lysikrates-Monuments stilisirt er- scheinen. 37) Apollotempel zu Bassae. 38) Stuart und Revett, Taf. 4 und 5.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/252>, abgerufen am 26.11.2024.