Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

Bild:
<< vorherige Seite

B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
schen Vasen2). Mit Rankenzweigen wurde auch schon Aehnliches
versucht: im Rhodischen (Fig. 70), im Böotischen (Fig. 81). Die vor-
geschrittenste unter den bisher beobachteten Lösungen war die chal-
kidische, und an diese hat auch, wie wir sehen werden, die weitere
Entwicklung angeknüpft.

Zwar die Stelle, die wir es an den chalkidischen Vasen ein-
nehmen sehen, konnte es nicht behaupten. Das chalkidische Ranken-
geschlinge als Füllung hatte, wie wir gesehen haben, seinen eigent-
lichen Platz als Mittel zwischen flankirenden Thierfriesen. In dem
Maasse als der künstlerische Zug der Zeit zur Einführung von
figürlichen Compositionen in die Gefässverzierung hindrängte, traten
die Thierfriese zurück und wurde auch das Rankengeschlinge über-
flüssig. Aber eine Stelle gab es doch an der Vase, wohin die figür-
lichen Scenen sich nicht erstreckten und wo somit das reine Ornament
Zuflucht finden konnte. Es ist dies die Gegend um und unter dem
Henkel, und an dieser Stelle hat sich auch in der That das Ranken-
ornament wenigstens an den Vasen -- leider unserem einzigen Unter-
suchungsmaterial -- weiter entwickelt, und zwar, wie wir sehen werden,
unter deutlicher Anknüpfung an das centrale Rankengeschlinge, aber
unter zunehmender Verfeinerung der Ranken und Emanicipirung der
Blüthen, die aus blossen Zwickelfüllungen zu selbständigen Gebilden
werden.

Bei den kleinen symmetrischen Rankenornamenten, die häufig
anstatt des complicirteren chalkidischen Schemas die Trennung in der
Mitte zwischen den affrontirten Thieren bewerkstelligen3) und die
sämmtlich auf das symmetrische Zusammentreten zweier kurzer ge-
schwungener Ranken, mit Zwickelfüllung durch Lotus oder Palmette
(auch gegenständig) zurückgehen, will ich mich nicht aufhalten, da sie
entwicklungsgeschichtlich kaum höher zu stellen sind als etwa die
rhodische Füllranke Fig. 70.

Bevor wir uns aber zur Betrachtung des Processes wenden, der
zur vollständigen Befreiung der Ranke von dem geometrischen Spiral-
bandcharakter geführt hat, wodurch sie erst befähigt wurde, beliebige
Flächen in unbeengtem, das Maass bloss in sich selbst suchendem
Schwunge zu überziehen, wollen wir vorerst die Entwicklung betrachten,
die dieselbe in dem gebundenen Streifenschema der fortlaufenden
Bordüre genommen hat.


2) Fig. 66, vgl. das eben vorhin darüber Gesagte.
3) Z. B. Brunn-Lau VIII. 6.

B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
schen Vasen2). Mit Rankenzweigen wurde auch schon Aehnliches
versucht: im Rhodischen (Fig. 70), im Böotischen (Fig. 81). Die vor-
geschrittenste unter den bisher beobachteten Lösungen war die chal-
kidische, und an diese hat auch, wie wir sehen werden, die weitere
Entwicklung angeknüpft.

Zwar die Stelle, die wir es an den chalkidischen Vasen ein-
nehmen sehen, konnte es nicht behaupten. Das chalkidische Ranken-
geschlinge als Füllung hatte, wie wir gesehen haben, seinen eigent-
lichen Platz als Mittel zwischen flankirenden Thierfriesen. In dem
Maasse als der künstlerische Zug der Zeit zur Einführung von
figürlichen Compositionen in die Gefässverzierung hindrängte, traten
die Thierfriese zurück und wurde auch das Rankengeschlinge über-
flüssig. Aber eine Stelle gab es doch an der Vase, wohin die figür-
lichen Scenen sich nicht erstreckten und wo somit das reine Ornament
Zuflucht finden konnte. Es ist dies die Gegend um und unter dem
Henkel, und an dieser Stelle hat sich auch in der That das Ranken-
ornament wenigstens an den Vasen — leider unserem einzigen Unter-
suchungsmaterial — weiter entwickelt, und zwar, wie wir sehen werden,
unter deutlicher Anknüpfung an das centrale Rankengeschlinge, aber
unter zunehmender Verfeinerung der Ranken und Emanicipirung der
Blüthen, die aus blossen Zwickelfüllungen zu selbständigen Gebilden
werden.

Bei den kleinen symmetrischen Rankenornamenten, die häufig
anstatt des complicirteren chalkidischen Schemas die Trennung in der
Mitte zwischen den affrontirten Thieren bewerkstelligen3) und die
sämmtlich auf das symmetrische Zusammentreten zweier kurzer ge-
schwungener Ranken, mit Zwickelfüllung durch Lotus oder Palmette
(auch gegenständig) zurückgehen, will ich mich nicht aufhalten, da sie
entwicklungsgeschichtlich kaum höher zu stellen sind als etwa die
rhodische Füllranke Fig. 70.

Bevor wir uns aber zur Betrachtung des Processes wenden, der
zur vollständigen Befreiung der Ranke von dem geometrischen Spiral-
bandcharakter geführt hat, wodurch sie erst befähigt wurde, beliebige
Flächen in unbeengtem, das Maass bloss in sich selbst suchendem
Schwunge zu überziehen, wollen wir vorerst die Entwicklung betrachten,
die dieselbe in dem gebundenen Streifenschema der fortlaufenden
Bordüre genommen hat.


2) Fig. 66, vgl. das eben vorhin darüber Gesagte.
3) Z. B. Brunn-Lau VIII. 6.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0216" n="190"/><fw place="top" type="header">B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.</fw><lb/>
schen Vasen<note place="foot" n="2)">Fig. 66, vgl. das eben vorhin darüber Gesagte.</note>. Mit Rankenzweigen wurde auch schon Aehnliches<lb/>
versucht: im Rhodischen (Fig. 70), im Böotischen (Fig. 81). Die vor-<lb/>
geschrittenste unter den bisher beobachteten Lösungen war die chal-<lb/>
kidische, und an diese hat auch, wie wir sehen werden, die weitere<lb/>
Entwicklung angeknüpft.</p><lb/>
            <p>Zwar die Stelle, die wir es an den chalkidischen Vasen ein-<lb/>
nehmen sehen, konnte es nicht behaupten. Das chalkidische Ranken-<lb/>
geschlinge als Füllung hatte, wie wir gesehen haben, seinen eigent-<lb/>
lichen Platz als Mittel zwischen flankirenden Thierfriesen. In dem<lb/>
Maasse als der künstlerische Zug der Zeit zur Einführung von<lb/>
figürlichen Compositionen in die Gefässverzierung hindrängte, traten<lb/>
die Thierfriese zurück und wurde auch das Rankengeschlinge über-<lb/>
flüssig. Aber eine Stelle gab es doch an der Vase, wohin die figür-<lb/>
lichen Scenen sich nicht erstreckten und wo somit das reine Ornament<lb/>
Zuflucht finden konnte. Es ist dies die Gegend um und unter dem<lb/>
Henkel, und an dieser Stelle hat sich auch in der That das Ranken-<lb/>
ornament wenigstens an den Vasen &#x2014; leider unserem einzigen Unter-<lb/>
suchungsmaterial &#x2014; weiter entwickelt, und zwar, wie wir sehen werden,<lb/>
unter deutlicher Anknüpfung an das centrale Rankengeschlinge, aber<lb/>
unter zunehmender Verfeinerung der Ranken und Emanicipirung der<lb/>
Blüthen, die aus blossen Zwickelfüllungen zu selbständigen Gebilden<lb/>
werden.</p><lb/>
            <p>Bei den kleinen symmetrischen Rankenornamenten, die häufig<lb/>
anstatt des complicirteren chalkidischen Schemas die Trennung in der<lb/>
Mitte zwischen den affrontirten Thieren bewerkstelligen<note place="foot" n="3)">Z. B. Brunn-Lau VIII. 6.</note> und die<lb/>
sämmtlich auf das symmetrische Zusammentreten zweier kurzer ge-<lb/>
schwungener Ranken, mit Zwickelfüllung durch Lotus oder Palmette<lb/>
(auch gegenständig) zurückgehen, will ich mich nicht aufhalten, da sie<lb/>
entwicklungsgeschichtlich kaum höher zu stellen sind als etwa die<lb/>
rhodische Füllranke Fig. 70.</p><lb/>
            <p>Bevor wir uns aber zur Betrachtung des Processes wenden, der<lb/>
zur vollständigen Befreiung der Ranke von dem geometrischen Spiral-<lb/>
bandcharakter geführt hat, wodurch sie erst befähigt wurde, beliebige<lb/>
Flächen in unbeengtem, das Maass bloss in sich selbst suchendem<lb/>
Schwunge zu überziehen, wollen wir vorerst die Entwicklung betrachten,<lb/>
die dieselbe in dem gebundenen Streifenschema der fortlaufenden<lb/>
Bordüre genommen hat.</p>
          </div><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[190/0216] B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst. schen Vasen 2). Mit Rankenzweigen wurde auch schon Aehnliches versucht: im Rhodischen (Fig. 70), im Böotischen (Fig. 81). Die vor- geschrittenste unter den bisher beobachteten Lösungen war die chal- kidische, und an diese hat auch, wie wir sehen werden, die weitere Entwicklung angeknüpft. Zwar die Stelle, die wir es an den chalkidischen Vasen ein- nehmen sehen, konnte es nicht behaupten. Das chalkidische Ranken- geschlinge als Füllung hatte, wie wir gesehen haben, seinen eigent- lichen Platz als Mittel zwischen flankirenden Thierfriesen. In dem Maasse als der künstlerische Zug der Zeit zur Einführung von figürlichen Compositionen in die Gefässverzierung hindrängte, traten die Thierfriese zurück und wurde auch das Rankengeschlinge über- flüssig. Aber eine Stelle gab es doch an der Vase, wohin die figür- lichen Scenen sich nicht erstreckten und wo somit das reine Ornament Zuflucht finden konnte. Es ist dies die Gegend um und unter dem Henkel, und an dieser Stelle hat sich auch in der That das Ranken- ornament wenigstens an den Vasen — leider unserem einzigen Unter- suchungsmaterial — weiter entwickelt, und zwar, wie wir sehen werden, unter deutlicher Anknüpfung an das centrale Rankengeschlinge, aber unter zunehmender Verfeinerung der Ranken und Emanicipirung der Blüthen, die aus blossen Zwickelfüllungen zu selbständigen Gebilden werden. Bei den kleinen symmetrischen Rankenornamenten, die häufig anstatt des complicirteren chalkidischen Schemas die Trennung in der Mitte zwischen den affrontirten Thieren bewerkstelligen 3) und die sämmtlich auf das symmetrische Zusammentreten zweier kurzer ge- schwungener Ranken, mit Zwickelfüllung durch Lotus oder Palmette (auch gegenständig) zurückgehen, will ich mich nicht aufhalten, da sie entwicklungsgeschichtlich kaum höher zu stellen sind als etwa die rhodische Füllranke Fig. 70. Bevor wir uns aber zur Betrachtung des Processes wenden, der zur vollständigen Befreiung der Ranke von dem geometrischen Spiral- bandcharakter geführt hat, wodurch sie erst befähigt wurde, beliebige Flächen in unbeengtem, das Maass bloss in sich selbst suchendem Schwunge zu überziehen, wollen wir vorerst die Entwicklung betrachten, die dieselbe in dem gebundenen Streifenschema der fortlaufenden Bordüre genommen hat. 2) Fig. 66, vgl. das eben vorhin darüber Gesagte. 3) Z. B. Brunn-Lau VIII. 6.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/216
Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/216>, abgerufen am 26.11.2024.