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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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1. Mykenisches.
er offenbar vollends bestärkt durch den Umstand, dass Flinders Petrie
im Jahre 1890 zwei Beispiele von Wellenranken im Typus von Fig. 52
in Egypten gefunden haben soll, datirbar in die Zeit der 19. oder den
Beginn der 20. Dynastie. Selbst wenn sich die Identität dieser zwei Bei-
spiele mit dem intermittirenden Typus von Fig. 52 herausstellen sollte,
wäre dies mit Rücksicht auf das massenhafte mykenische Geschirr, das
in Egypten (namentlich von Petrie) gefunden wurde, nicht entscheidend
für egyptischen Ursprung. Zwischen dem bornirten egyptischen Kunst-
geist und demjenigen der sich in der griechischen Pflanzenranke aus-
spricht, liegt eben eine ganze Welt.

Der freie naturalistische Zug, der sich im Rankenornament
ausspricht und dessen Vorhandensein in der mykenischen Kunst Good-
year schlankweg leugnet, lässt sich bei aufmerksamer Beobachtung auch
an gewissen Einzelmotiven der my-
kenischen Blüthenornamentik beob-
achten
. Wir haben schon vorhin (S. 115 f.)
gesehen, dass die "Mykenäer" die gebräuch-
lichsten Voluten-Blüthenmotive nicht skla-
visch nach dem egyptischen Typus kopirt,
sondern mehr oder minder frei nachgebildet
haben. Möglicherweise haben sie in der
That bei der Einzeichnung der Palmetten-
fächer an Staubfäden gedacht, die Furt-
wängler darin erblicken will. Es würde
sich darin eine naturalisirende Tendenz

[Abbildung] Fig. 54.

Getriebenes Goldplättchen. Mykenisch.

aussprechen, die das seiner formalen Schönheit (oder symbolischen Be-
deutung?) halber übernommene Motiv der verständlichen Wirklichkeit,
der realen Pflanzennatur anzunähern bestrebt gewesen wäre. Der Nach-
weis dafür, dass bei der Nachbildung der egyptischen Volutenmotive
eine solche Tendenz vorhanden gewesen ist, lässt sich in der That
wenigstens an einem Typus führen, dessen Diskussion seinerzeit (S. 116)
für diese Gelegenheit vorbehalten wurde.

Es ist dies das Motiv des reinen Dreiblattes, woran zwei mehr oder
minder volutenförmig gestaltete Blätter als Kelch dienen, aus welchem
sich das dritte Blatt als krönende Zwickelfüllung erhebt. Als Beispiel
diene das Goldblech Fig. 5426) mit affrontirtem Pantherkatzen-Paar über

26) Schliemann, Mykenä Fig. 266. Weitere Beispiele ebendas. Fig. 87,
264, 265, 470.
Riegl, Stilfragen. 9

1. Mykenisches.
er offenbar vollends bestärkt durch den Umstand, dass Flinders Petrie
im Jahre 1890 zwei Beispiele von Wellenranken im Typus von Fig. 52
in Egypten gefunden haben soll, datirbar in die Zeit der 19. oder den
Beginn der 20. Dynastie. Selbst wenn sich die Identität dieser zwei Bei-
spiele mit dem intermittirenden Typus von Fig. 52 herausstellen sollte,
wäre dies mit Rücksicht auf das massenhafte mykenische Geschirr, das
in Egypten (namentlich von Petrie) gefunden wurde, nicht entscheidend
für egyptischen Ursprung. Zwischen dem bornirten egyptischen Kunst-
geist und demjenigen der sich in der griechischen Pflanzenranke aus-
spricht, liegt eben eine ganze Welt.

Der freie naturalistische Zug, der sich im Rankenornament
ausspricht und dessen Vorhandensein in der mykenischen Kunst Good-
year schlankweg leugnet, lässt sich bei aufmerksamer Beobachtung auch
an gewissen Einzelmotiven der my-
kenischen Blüthenornamentik beob-
achten
. Wir haben schon vorhin (S. 115 f.)
gesehen, dass die „Mykenäer“ die gebräuch-
lichsten Voluten-Blüthenmotive nicht skla-
visch nach dem egyptischen Typus kopirt,
sondern mehr oder minder frei nachgebildet
haben. Möglicherweise haben sie in der
That bei der Einzeichnung der Palmetten-
fächer an Staubfäden gedacht, die Furt-
wängler darin erblicken will. Es würde
sich darin eine naturalisirende Tendenz

[Abbildung] Fig. 54.

Getriebenes Goldplättchen. Mykenisch.

aussprechen, die das seiner formalen Schönheit (oder symbolischen Be-
deutung?) halber übernommene Motiv der verständlichen Wirklichkeit,
der realen Pflanzennatur anzunähern bestrebt gewesen wäre. Der Nach-
weis dafür, dass bei der Nachbildung der egyptischen Volutenmotive
eine solche Tendenz vorhanden gewesen ist, lässt sich in der That
wenigstens an einem Typus führen, dessen Diskussion seinerzeit (S. 116)
für diese Gelegenheit vorbehalten wurde.

Es ist dies das Motiv des reinen Dreiblattes, woran zwei mehr oder
minder volutenförmig gestaltete Blätter als Kelch dienen, aus welchem
sich das dritte Blatt als krönende Zwickelfüllung erhebt. Als Beispiel
diene das Goldblech Fig. 5426) mit affrontirtem Pantherkatzen-Paar über

26) Schliemann, Mykenä Fig. 266. Weitere Beispiele ebendas. Fig. 87,
264, 265, 470.
Riegl, Stilfragen. 9
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[129/0155] 1. Mykenisches. er offenbar vollends bestärkt durch den Umstand, dass Flinders Petrie im Jahre 1890 zwei Beispiele von Wellenranken im Typus von Fig. 52 in Egypten gefunden haben soll, datirbar in die Zeit der 19. oder den Beginn der 20. Dynastie. Selbst wenn sich die Identität dieser zwei Bei- spiele mit dem intermittirenden Typus von Fig. 52 herausstellen sollte, wäre dies mit Rücksicht auf das massenhafte mykenische Geschirr, das in Egypten (namentlich von Petrie) gefunden wurde, nicht entscheidend für egyptischen Ursprung. Zwischen dem bornirten egyptischen Kunst- geist und demjenigen der sich in der griechischen Pflanzenranke aus- spricht, liegt eben eine ganze Welt. Der freie naturalistische Zug, der sich im Rankenornament ausspricht und dessen Vorhandensein in der mykenischen Kunst Good- year schlankweg leugnet, lässt sich bei aufmerksamer Beobachtung auch an gewissen Einzelmotiven der my- kenischen Blüthenornamentik beob- achten. Wir haben schon vorhin (S. 115 f.) gesehen, dass die „Mykenäer“ die gebräuch- lichsten Voluten-Blüthenmotive nicht skla- visch nach dem egyptischen Typus kopirt, sondern mehr oder minder frei nachgebildet haben. Möglicherweise haben sie in der That bei der Einzeichnung der Palmetten- fächer an Staubfäden gedacht, die Furt- wängler darin erblicken will. Es würde sich darin eine naturalisirende Tendenz [Abbildung Fig. 54. Getriebenes Goldplättchen. Mykenisch.] aussprechen, die das seiner formalen Schönheit (oder symbolischen Be- deutung?) halber übernommene Motiv der verständlichen Wirklichkeit, der realen Pflanzennatur anzunähern bestrebt gewesen wäre. Der Nach- weis dafür, dass bei der Nachbildung der egyptischen Volutenmotive eine solche Tendenz vorhanden gewesen ist, lässt sich in der That wenigstens an einem Typus führen, dessen Diskussion seinerzeit (S. 116) für diese Gelegenheit vorbehalten wurde. Es ist dies das Motiv des reinen Dreiblattes, woran zwei mehr oder minder volutenförmig gestaltete Blätter als Kelch dienen, aus welchem sich das dritte Blatt als krönende Zwickelfüllung erhebt. Als Beispiel diene das Goldblech Fig. 54 26) mit affrontirtem Pantherkatzen-Paar über 26) Schliemann, Mykenä Fig. 266. Weitere Beispiele ebendas. Fig. 87, 264, 265, 470. Riegl, Stilfragen. 9

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/155>, abgerufen am 24.11.2024.