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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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1. Mykenisches.
Formschönen in der denkbar gefälligsten Weise umgebildet hat, so hat
er auch die vollkommenste Weise der Verbindung zwischen diesen
Blüthen gefunden: die im wohllautenden Rhythmus verfliessende Ranke.
Kein Vorbild in der Natur konnte auf das Zustandekommen der Wellen-
ranke unmittelbaren Einfluss üben, da sie sich in ihren beiden typischen
Formen, insbesondere in der intermittirenden, in der Natur nirgends
findet: sie ist ein frei aus der Phantasie heraus geschaffenes Produkt des
griechischen Kunstgeistes.

Von diesem Gesichtspunkte aus gewinnen wir aber eine neue,
fundamentale Anschauung von der geschichtlichen Stellung der my-
kenischen Kunst überhaupt: die mykenische Kunst erscheint uns
hiernach als der unmittelbare Vorläufer der hellenischen
Kunst der hellen historischen Zeit
. Das Dipylon und was sonst
dazwischen lag, war nur eine Verdunkelung, eine Störung der ange-
bahnten Entwicklung. Und wenn es einen Zusammenhang giebt zwischen
kunstgeschichtlichen Beobachtungen und ethnographischen Verhältnissen,
so werden wir den Rückschluss wagen dürfen, dass das Volk, welches
die mykenische Kunst gepflegt hat, mögen es nun die Karer oder sonst-
welchen Namens gewesen sein, -- dass dieses Volk eine ganz wesent-
liche Componente des späteren griechischen Volksthums gebildet haben
muss. Die zweite grosse Staffel der Kunstgeschichte, welche die vor-
alexandrinische Kunst der Hellenen repräsentirt, -- die "mykenischen"
Künstler haben sie bereits erklommen. Wenn Puchstein in den Säulen
des Atridenschatzhauses die wahren protodorischen Säulen erblickt hat,
so werden wir in der Ornamentik der mykenischen Vasen und Gold-
sachen die wahre protohellenische Ornamentik sehen dürfen, ebenso
wie in der Kriegervase, dem Becher von Vaphio u. s. w. die unmittel-
baren Vorläufer jener Darstellungen rein menschlicher Thaten und Vor-
gänge, wie sie die reife hellenische Kunst auch auf gewöhnlichen All-
tagswerken dem Auge vorzuführen gesucht hat.

Die erörterte Bedeutung des Rankenornaments, insbesondere der
Wellenranke, in der mykenischen Kunst ist, wie es scheint -- bisher
nicht genügend erkannt worden. Der einzige, dem meines Wissens das
Vorkommen der Wellenranke in den vor- und frühgriechischen Stilen
Anlass zu einigen Bemerkungen gegeben hat, ist J. Böhlau24) gewesen,
der das Schema der fortlaufenden Wellenranke, wie es sich an einigen
von ihm untersuchten böotischen Vasen findet, ganz richtig mit dem

24) Jahrb. des deut. archäol. Inst. 1888, S. 333.

1. Mykenisches.
Formschönen in der denkbar gefälligsten Weise umgebildet hat, so hat
er auch die vollkommenste Weise der Verbindung zwischen diesen
Blüthen gefunden: die im wohllautenden Rhythmus verfliessende Ranke.
Kein Vorbild in der Natur konnte auf das Zustandekommen der Wellen-
ranke unmittelbaren Einfluss üben, da sie sich in ihren beiden typischen
Formen, insbesondere in der intermittirenden, in der Natur nirgends
findet: sie ist ein frei aus der Phantasie heraus geschaffenes Produkt des
griechischen Kunstgeistes.

Von diesem Gesichtspunkte aus gewinnen wir aber eine neue,
fundamentale Anschauung von der geschichtlichen Stellung der my-
kenischen Kunst überhaupt: die mykenische Kunst erscheint uns
hiernach als der unmittelbare Vorläufer der hellenischen
Kunst der hellen historischen Zeit
. Das Dipylon und was sonst
dazwischen lag, war nur eine Verdunkelung, eine Störung der ange-
bahnten Entwicklung. Und wenn es einen Zusammenhang giebt zwischen
kunstgeschichtlichen Beobachtungen und ethnographischen Verhältnissen,
so werden wir den Rückschluss wagen dürfen, dass das Volk, welches
die mykenische Kunst gepflegt hat, mögen es nun die Karer oder sonst-
welchen Namens gewesen sein, — dass dieses Volk eine ganz wesent-
liche Componente des späteren griechischen Volksthums gebildet haben
muss. Die zweite grosse Staffel der Kunstgeschichte, welche die vor-
alexandrinische Kunst der Hellenen repräsentirt, — die „mykenischen“
Künstler haben sie bereits erklommen. Wenn Puchstein in den Säulen
des Atridenschatzhauses die wahren protodorischen Säulen erblickt hat,
so werden wir in der Ornamentik der mykenischen Vasen und Gold-
sachen die wahre protohellenische Ornamentik sehen dürfen, ebenso
wie in der Kriegervase, dem Becher von Vaphio u. s. w. die unmittel-
baren Vorläufer jener Darstellungen rein menschlicher Thaten und Vor-
gänge, wie sie die reife hellenische Kunst auch auf gewöhnlichen All-
tagswerken dem Auge vorzuführen gesucht hat.

Die erörterte Bedeutung des Rankenornaments, insbesondere der
Wellenranke, in der mykenischen Kunst ist, wie es scheint — bisher
nicht genügend erkannt worden. Der einzige, dem meines Wissens das
Vorkommen der Wellenranke in den vor- und frühgriechischen Stilen
Anlass zu einigen Bemerkungen gegeben hat, ist J. Böhlau24) gewesen,
der das Schema der fortlaufenden Wellenranke, wie es sich an einigen
von ihm untersuchten böotischen Vasen findet, ganz richtig mit dem

24) Jahrb. des deut. archäol. Inst. 1888, S. 333.
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[127/0153] 1. Mykenisches. Formschönen in der denkbar gefälligsten Weise umgebildet hat, so hat er auch die vollkommenste Weise der Verbindung zwischen diesen Blüthen gefunden: die im wohllautenden Rhythmus verfliessende Ranke. Kein Vorbild in der Natur konnte auf das Zustandekommen der Wellen- ranke unmittelbaren Einfluss üben, da sie sich in ihren beiden typischen Formen, insbesondere in der intermittirenden, in der Natur nirgends findet: sie ist ein frei aus der Phantasie heraus geschaffenes Produkt des griechischen Kunstgeistes. Von diesem Gesichtspunkte aus gewinnen wir aber eine neue, fundamentale Anschauung von der geschichtlichen Stellung der my- kenischen Kunst überhaupt: die mykenische Kunst erscheint uns hiernach als der unmittelbare Vorläufer der hellenischen Kunst der hellen historischen Zeit. Das Dipylon und was sonst dazwischen lag, war nur eine Verdunkelung, eine Störung der ange- bahnten Entwicklung. Und wenn es einen Zusammenhang giebt zwischen kunstgeschichtlichen Beobachtungen und ethnographischen Verhältnissen, so werden wir den Rückschluss wagen dürfen, dass das Volk, welches die mykenische Kunst gepflegt hat, mögen es nun die Karer oder sonst- welchen Namens gewesen sein, — dass dieses Volk eine ganz wesent- liche Componente des späteren griechischen Volksthums gebildet haben muss. Die zweite grosse Staffel der Kunstgeschichte, welche die vor- alexandrinische Kunst der Hellenen repräsentirt, — die „mykenischen“ Künstler haben sie bereits erklommen. Wenn Puchstein in den Säulen des Atridenschatzhauses die wahren protodorischen Säulen erblickt hat, so werden wir in der Ornamentik der mykenischen Vasen und Gold- sachen die wahre protohellenische Ornamentik sehen dürfen, ebenso wie in der Kriegervase, dem Becher von Vaphio u. s. w. die unmittel- baren Vorläufer jener Darstellungen rein menschlicher Thaten und Vor- gänge, wie sie die reife hellenische Kunst auch auf gewöhnlichen All- tagswerken dem Auge vorzuführen gesucht hat. Die erörterte Bedeutung des Rankenornaments, insbesondere der Wellenranke, in der mykenischen Kunst ist, wie es scheint — bisher nicht genügend erkannt worden. Der einzige, dem meines Wissens das Vorkommen der Wellenranke in den vor- und frühgriechischen Stilen Anlass zu einigen Bemerkungen gegeben hat, ist J. Böhlau 24) gewesen, der das Schema der fortlaufenden Wellenranke, wie es sich an einigen von ihm untersuchten böotischen Vasen findet, ganz richtig mit dem 24) Jahrb. des deut. archäol. Inst. 1888, S. 333.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/153>, abgerufen am 24.11.2024.