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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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Einleitung.
mittels textiler Produkte tritt uns dasjenige nach Schmuck des Leibes
entgegen, und Verzierungen, die dem blossen Schmückungstriebe dienen,
darunter auch linear-geometrische, hat es wohl schon lange vor dem
Aufkommen der dem Leibesschutze ursprünglich gewidmeten textilen
Künste gegeben. Damit erscheint ein Grundsatz hinweggeräumt, der
die gesammte Kunstlehre seit 25 Jahren souverän beherrschte: die
Identificirung der Textilornamentik mit Flächenverzierung oder Flach-
ornamentik schlechtweg. Sobald es in Zweifel gestellt erscheint, dass
die ältesten Flächenverzierungen in textilem Material und textiler
Technik ausgeführt waren, hört auch die Identität der beiden zu gelten
auf. Die Flächenverzierung wird zur höheren Einheit, die
Textilverzierung zur subordinirten Theileinheit, gleich-
werthig anderen flächenverzierenden Künsten
.

Die Einschränkung der Textilornamentik auf das ihr zukommende
Maass an Bedeutung bildet überhaupt einen der leitenden Gesichts-
punkte dieses ganzen Buches. Ich muss gestehen, dass es zugleich der
Ausgangspunkt für alle meine einschlägigen Untersuchungen gewesen
ist, -- ein Ausgangspunkt, zu dem ich durch eine nunmehr achtjährige
Thätigkeit an der Textilsammlung des K. K. österreichischen Museums
für Kunst und Industrie gelangt bin. Ja ich will, selbst auf die Ge-
fahr hin ob dieser Sentimentalität bespöttelt zu werden, bekennen,
dass ich mich eines gewissen Bedauerns nicht erwehren konnte, dazu
verurtheilt zu sein, gerade derjenigen Kunst, zu der ich infolge der
langjährigen Verwaltung einer Textilsammlung in eine Art persönlichen
Verhältnisses getreten bin, einen so wesentlichen Theil ihres Nimbus
rauben zu müssen.

War man erst zu der Aufstellung des folgenschweren Lehrsatzes
von der ursprünglichen Identität von Flächenverzierung und Textil-
verzierung gelangt, so war für das Geltungsgebiet der Textilornamentik
fast keine Grenze mehr gezogen. Von den geradlinigen geometrischen
Ornamenten, mit denen man den Anfang gemacht hatte, gelangte man
alsbald bis zu den künstlerischen Darstellungen der komplicirtesten
organischen Wesen, Menschen und Thiere. So fand man u. a., dass
die Verdoppelung und symmetrische Gegenüberstellung von Figuren
zu beiden Seiten eines trennenden Mittels hinsichtlich ihrer Entstehung
auf die textile Technik der Kunstweberei zurückzuführen wäre. Bei

Einleitung.
mittels textiler Produkte tritt uns dasjenige nach Schmuck des Leibes
entgegen, und Verzierungen, die dem blossen Schmückungstriebe dienen,
darunter auch linear-geometrische, hat es wohl schon lange vor dem
Aufkommen der dem Leibesschutze ursprünglich gewidmeten textilen
Künste gegeben. Damit erscheint ein Grundsatz hinweggeräumt, der
die gesammte Kunstlehre seit 25 Jahren souverän beherrschte: die
Identificirung der Textilornamentik mit Flächenverzierung oder Flach-
ornamentik schlechtweg. Sobald es in Zweifel gestellt erscheint, dass
die ältesten Flächenverzierungen in textilem Material und textiler
Technik ausgeführt waren, hört auch die Identität der beiden zu gelten
auf. Die Flächenverzierung wird zur höheren Einheit, die
Textilverzierung zur subordinirten Theileinheit, gleich-
werthig anderen flächenverzierenden Künsten
.

Die Einschränkung der Textilornamentik auf das ihr zukommende
Maass an Bedeutung bildet überhaupt einen der leitenden Gesichts-
punkte dieses ganzen Buches. Ich muss gestehen, dass es zugleich der
Ausgangspunkt für alle meine einschlägigen Untersuchungen gewesen
ist, — ein Ausgangspunkt, zu dem ich durch eine nunmehr achtjährige
Thätigkeit an der Textilsammlung des K. K. österreichischen Museums
für Kunst und Industrie gelangt bin. Ja ich will, selbst auf die Ge-
fahr hin ob dieser Sentimentalität bespöttelt zu werden, bekennen,
dass ich mich eines gewissen Bedauerns nicht erwehren konnte, dazu
verurtheilt zu sein, gerade derjenigen Kunst, zu der ich infolge der
langjährigen Verwaltung einer Textilsammlung in eine Art persönlichen
Verhältnisses getreten bin, einen so wesentlichen Theil ihres Nimbus
rauben zu müssen.

War man erst zu der Aufstellung des folgenschweren Lehrsatzes
von der ursprünglichen Identität von Flächenverzierung und Textil-
verzierung gelangt, so war für das Geltungsgebiet der Textilornamentik
fast keine Grenze mehr gezogen. Von den geradlinigen geometrischen
Ornamenten, mit denen man den Anfang gemacht hatte, gelangte man
alsbald bis zu den künstlerischen Darstellungen der komplicirtesten
organischen Wesen, Menschen und Thiere. So fand man u. a., dass
die Verdoppelung und symmetrische Gegenüberstellung von Figuren
zu beiden Seiten eines trennenden Mittels hinsichtlich ihrer Entstehung
auf die textile Technik der Kunstweberei zurückzuführen wäre. Bei

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[IX/0015] Einleitung. mittels textiler Produkte tritt uns dasjenige nach Schmuck des Leibes entgegen, und Verzierungen, die dem blossen Schmückungstriebe dienen, darunter auch linear-geometrische, hat es wohl schon lange vor dem Aufkommen der dem Leibesschutze ursprünglich gewidmeten textilen Künste gegeben. Damit erscheint ein Grundsatz hinweggeräumt, der die gesammte Kunstlehre seit 25 Jahren souverän beherrschte: die Identificirung der Textilornamentik mit Flächenverzierung oder Flach- ornamentik schlechtweg. Sobald es in Zweifel gestellt erscheint, dass die ältesten Flächenverzierungen in textilem Material und textiler Technik ausgeführt waren, hört auch die Identität der beiden zu gelten auf. Die Flächenverzierung wird zur höheren Einheit, die Textilverzierung zur subordinirten Theileinheit, gleich- werthig anderen flächenverzierenden Künsten. Die Einschränkung der Textilornamentik auf das ihr zukommende Maass an Bedeutung bildet überhaupt einen der leitenden Gesichts- punkte dieses ganzen Buches. Ich muss gestehen, dass es zugleich der Ausgangspunkt für alle meine einschlägigen Untersuchungen gewesen ist, — ein Ausgangspunkt, zu dem ich durch eine nunmehr achtjährige Thätigkeit an der Textilsammlung des K. K. österreichischen Museums für Kunst und Industrie gelangt bin. Ja ich will, selbst auf die Ge- fahr hin ob dieser Sentimentalität bespöttelt zu werden, bekennen, dass ich mich eines gewissen Bedauerns nicht erwehren konnte, dazu verurtheilt zu sein, gerade derjenigen Kunst, zu der ich infolge der langjährigen Verwaltung einer Textilsammlung in eine Art persönlichen Verhältnisses getreten bin, einen so wesentlichen Theil ihres Nimbus rauben zu müssen. War man erst zu der Aufstellung des folgenschweren Lehrsatzes von der ursprünglichen Identität von Flächenverzierung und Textil- verzierung gelangt, so war für das Geltungsgebiet der Textilornamentik fast keine Grenze mehr gezogen. Von den geradlinigen geometrischen Ornamenten, mit denen man den Anfang gemacht hatte, gelangte man alsbald bis zu den künstlerischen Darstellungen der komplicirtesten organischen Wesen, Menschen und Thiere. So fand man u. a., dass die Verdoppelung und symmetrische Gegenüberstellung von Figuren zu beiden Seiten eines trennenden Mittels hinsichtlich ihrer Entstehung auf die textile Technik der Kunstweberei zurückzuführen wäre. Bei

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. IX. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/15>, abgerufen am 23.11.2024.