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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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1. Mykenisches.
der mykenischen Kunst wenigstens vorläufig noch isolirt dasteht. Es
existirt in der mykenischen Ornamentik eine ganze Reihe von Motiven
ausser dem Tintenfische, die man auf originelle Erfindung des mykenischen
Kunstvolkes zurückzuführen versucht hat. Darunter befinden sich auch
solche von offenbar vegetabilischer Grundbedeutung, womit wir auf
unser eigentliches Thema gebracht werden.

Die mykenische Kunst hat von Pflanzenornamenten einen
sehr reichlichen Gebrauch gemacht
. Indem wir uns der Er-
örterung der wichtigsten und am häufigsten vorkommenden unter diesen
Motiven zuwenden, wollen wir analog dem Vorgange, den wir bei Be-
sprechung des altorientalischen Pflanzenornaments beobachtet haben,
wiederum zuerst die Blüthen-,
Knospen- und Blattmotive für
sich betrachten, und in zweiter
Linie die Art ihrer Verbindung
unter einander, und ihrer dekora-
tiven Verwendung zur Flächen-
musterung überhaupt in's Auge
fassen.

Was zunächst die vornehmsten
Blüthenmotive betrifft, so ist ihre
Betrachtung in der That geeignet
Goodyear's Anschauung zu bestäti-

[Abbildung] Fig. 45.

Obertheil einer mykenischen Kanne.

gen. Unmittelbare Copien egyptischer Vorbilder mit allen wesentlichen
Einzelheiten treffen wir darunter zwar fast nirgends, aber ein wechsel-
seitiger Zusammenhang ist doch in den meisten Fällen unverkennbar.
Und zwar ist es insbesondere der Volutenkelch, der den Zusammenhang
so recht augenfällig macht (Fig. 45)2a). Diesbezüglich hat schon vor
Goodyear Furtwängler den Sachverhalt richtig erkannt3). Nur hat
letzterer als Vorbild diejenige Form des Volutenlotus im Auge gehabt,
die ausser dem Volutenkelch bloss eine zäpfchenförmige Füllung des
inneren Zwickels enthält (Fig. 20); der an Fig. 45 sichtbare Fächer,
der die Blüthe nach oben im Halbkreis abschliesst, musste infolgedessen
Furtwängler als selbständige Zuthat (Staubfäden) erscheinen. Eine solche
Annahme wird aber entbehrlich, wenn wir als Vorbild von Fig. 45 die
egyptische Lotuspalmette (Fig. 16, 19) annehmen, die ausser Voluten-

2a) Furtwängler u. L. Myken. Vasen 81.
3) Sammlung Sabouroff 9, Mykenische Vasen 60.
8*

1. Mykenisches.
der mykenischen Kunst wenigstens vorläufig noch isolirt dasteht. Es
existirt in der mykenischen Ornamentik eine ganze Reihe von Motiven
ausser dem Tintenfische, die man auf originelle Erfindung des mykenischen
Kunstvolkes zurückzuführen versucht hat. Darunter befinden sich auch
solche von offenbar vegetabilischer Grundbedeutung, womit wir auf
unser eigentliches Thema gebracht werden.

Die mykenische Kunst hat von Pflanzenornamenten einen
sehr reichlichen Gebrauch gemacht
. Indem wir uns der Er-
örterung der wichtigsten und am häufigsten vorkommenden unter diesen
Motiven zuwenden, wollen wir analog dem Vorgange, den wir bei Be-
sprechung des altorientalischen Pflanzenornaments beobachtet haben,
wiederum zuerst die Blüthen-,
Knospen- und Blattmotive für
sich betrachten, und in zweiter
Linie die Art ihrer Verbindung
unter einander, und ihrer dekora-
tiven Verwendung zur Flächen-
musterung überhaupt in’s Auge
fassen.

Was zunächst die vornehmsten
Blüthenmotive betrifft, so ist ihre
Betrachtung in der That geeignet
Goodyear’s Anschauung zu bestäti-

[Abbildung] Fig. 45.

Obertheil einer mykenischen Kanne.

gen. Unmittelbare Copien egyptischer Vorbilder mit allen wesentlichen
Einzelheiten treffen wir darunter zwar fast nirgends, aber ein wechsel-
seitiger Zusammenhang ist doch in den meisten Fällen unverkennbar.
Und zwar ist es insbesondere der Volutenkelch, der den Zusammenhang
so recht augenfällig macht (Fig. 45)2a). Diesbezüglich hat schon vor
Goodyear Furtwängler den Sachverhalt richtig erkannt3). Nur hat
letzterer als Vorbild diejenige Form des Volutenlotus im Auge gehabt,
die ausser dem Volutenkelch bloss eine zäpfchenförmige Füllung des
inneren Zwickels enthält (Fig. 20); der an Fig. 45 sichtbare Fächer,
der die Blüthe nach oben im Halbkreis abschliesst, musste infolgedessen
Furtwängler als selbständige Zuthat (Staubfäden) erscheinen. Eine solche
Annahme wird aber entbehrlich, wenn wir als Vorbild von Fig. 45 die
egyptische Lotuspalmette (Fig. 16, 19) annehmen, die ausser Voluten-

2a) Furtwängler u. L. Myken. Vasen 81.
3) Sammlung Sabouroff 9, Mykenische Vasen 60.
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[115/0141] 1. Mykenisches. der mykenischen Kunst wenigstens vorläufig noch isolirt dasteht. Es existirt in der mykenischen Ornamentik eine ganze Reihe von Motiven ausser dem Tintenfische, die man auf originelle Erfindung des mykenischen Kunstvolkes zurückzuführen versucht hat. Darunter befinden sich auch solche von offenbar vegetabilischer Grundbedeutung, womit wir auf unser eigentliches Thema gebracht werden. Die mykenische Kunst hat von Pflanzenornamenten einen sehr reichlichen Gebrauch gemacht. Indem wir uns der Er- örterung der wichtigsten und am häufigsten vorkommenden unter diesen Motiven zuwenden, wollen wir analog dem Vorgange, den wir bei Be- sprechung des altorientalischen Pflanzenornaments beobachtet haben, wiederum zuerst die Blüthen-, Knospen- und Blattmotive für sich betrachten, und in zweiter Linie die Art ihrer Verbindung unter einander, und ihrer dekora- tiven Verwendung zur Flächen- musterung überhaupt in’s Auge fassen. Was zunächst die vornehmsten Blüthenmotive betrifft, so ist ihre Betrachtung in der That geeignet Goodyear’s Anschauung zu bestäti- [Abbildung Fig. 45. Obertheil einer mykenischen Kanne.] gen. Unmittelbare Copien egyptischer Vorbilder mit allen wesentlichen Einzelheiten treffen wir darunter zwar fast nirgends, aber ein wechsel- seitiger Zusammenhang ist doch in den meisten Fällen unverkennbar. Und zwar ist es insbesondere der Volutenkelch, der den Zusammenhang so recht augenfällig macht (Fig. 45) 2a). Diesbezüglich hat schon vor Goodyear Furtwängler den Sachverhalt richtig erkannt 3). Nur hat letzterer als Vorbild diejenige Form des Volutenlotus im Auge gehabt, die ausser dem Volutenkelch bloss eine zäpfchenförmige Füllung des inneren Zwickels enthält (Fig. 20); der an Fig. 45 sichtbare Fächer, der die Blüthe nach oben im Halbkreis abschliesst, musste infolgedessen Furtwängler als selbständige Zuthat (Staubfäden) erscheinen. Eine solche Annahme wird aber entbehrlich, wenn wir als Vorbild von Fig. 45 die egyptische Lotuspalmette (Fig. 16, 19) annehmen, die ausser Voluten- 2a) Furtwängler u. L. Myken. Vasen 81. 3) Sammlung Sabouroff 9, Mykenische Vasen 60. 8*

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/141>, abgerufen am 22.11.2024.