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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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Einleitung.
hang existirt, die in Rede stehende materialistische Strömung in der
Auffassung der Kunstanfänge nichts Anderes ist, als so zu sagen die
Uebertragung des Darwinismus auf ein Gebiet des Geisteslebens. So
wie aber zwischen Darwinisten und Darwin, ist auch zwischen Sem-
perianern und Semper scharf und streng zu unterscheiden. Wenn Sem-
per sagte: beim Werden einer Kunstform kämen auch Stoff und
Technik in Betracht, so meinten die Semperianer sofort schlechtweg:
die Kunstform wäre eine Produkt aus Stoff und Technik. Die "Technik"
wurde rasch zum beliebtesten Schlagwort; im Sprachgebrauch erschien
es bald gleichwerthig mit "Kunst" und schliesslich hörte man es so-
gar öfter als das Wort Kunst. Von "Kunst" sprach der Naive, der
Laie; fachmännischer klang es, von "Technik" zu sprechen.

Es mag paradox erscheinen, dass die extreme Partei der Kunst-
materialisten auch unter den ausübenden Künstlern zahlreiche An-
hänger gefunden hat. Dies geschah gewiss nicht im Geiste Gottfried
Sempers, der wohl der Letzte gewesen wäre, der an Stelle des frei
schöpferischen Kunstwollens einen wesentlich mechanisch-materiellen
Nachahmungstrieb hätte gesetzt wissen wollen. Aber das Missverständ-
niss, als handelte es sich hiebei um die reine Idee des grossen Künstler-
Gelehrten Semper, war einmal vorhanden, und die natürliche Autorität,
welche die ausübenden Künstler in Sachen der "Technik" genossen,
brachte es ganz wesentlich mit sich, dass die Gelehrten, die Archäologen
und Kunsthistoriker, klein beigaben und Jenen das Feld überliessen,
wo nur irgendwie die "Technik" in Frage kommen konnte, von der
sie -- die Gelehrten -- selbst entweder gar nichts oder nur wenig ver-
standen. Erst im Laufe der letzteren Jahre wurden auch die Gelehrten
kühner. Das Wort "Technik" erwies sich als äusserst geduldig, man
fand, dass die meisten Ornamente in verschiedenen Techniken darstell-
bar waren und thatsächlich dargestellt wurden, man machte die fröh-
liche Erfahrung, dass sich mit Techniken trefflich streiten liess, und so
hub allmälig in den archäologischen und kunstgewerblichen Zeit-
schriften jene wilde Jagd nach Techniken an, deren Ende vielleicht
nicht früher zu erwarten steht, bis alle technischen Möglichkeiten für
ein jedes minder komplicirte Ornament erschöpft sein werden und man
sich am Ende zuverlässig dort befinden wird, von wo man ausge-
gangen ist.


Einleitung.
hang existirt, die in Rede stehende materialistische Strömung in der
Auffassung der Kunstanfänge nichts Anderes ist, als so zu sagen die
Uebertragung des Darwinismus auf ein Gebiet des Geisteslebens. So
wie aber zwischen Darwinisten und Darwin, ist auch zwischen Sem-
perianern und Semper scharf und streng zu unterscheiden. Wenn Sem-
per sagte: beim Werden einer Kunstform kämen auch Stoff und
Technik in Betracht, so meinten die Semperianer sofort schlechtweg:
die Kunstform wäre eine Produkt aus Stoff und Technik. Die „Technik“
wurde rasch zum beliebtesten Schlagwort; im Sprachgebrauch erschien
es bald gleichwerthig mit „Kunst“ und schliesslich hörte man es so-
gar öfter als das Wort Kunst. Von „Kunst“ sprach der Naive, der
Laie; fachmännischer klang es, von „Technik“ zu sprechen.

Es mag paradox erscheinen, dass die extreme Partei der Kunst-
materialisten auch unter den ausübenden Künstlern zahlreiche An-
hänger gefunden hat. Dies geschah gewiss nicht im Geiste Gottfried
Sempers, der wohl der Letzte gewesen wäre, der an Stelle des frei
schöpferischen Kunstwollens einen wesentlich mechanisch-materiellen
Nachahmungstrieb hätte gesetzt wissen wollen. Aber das Missverständ-
niss, als handelte es sich hiebei um die reine Idee des grossen Künstler-
Gelehrten Semper, war einmal vorhanden, und die natürliche Autorität,
welche die ausübenden Künstler in Sachen der „Technik“ genossen,
brachte es ganz wesentlich mit sich, dass die Gelehrten, die Archäologen
und Kunsthistoriker, klein beigaben und Jenen das Feld überliessen,
wo nur irgendwie die „Technik“ in Frage kommen konnte, von der
sie — die Gelehrten — selbst entweder gar nichts oder nur wenig ver-
standen. Erst im Laufe der letzteren Jahre wurden auch die Gelehrten
kühner. Das Wort „Technik“ erwies sich als äusserst geduldig, man
fand, dass die meisten Ornamente in verschiedenen Techniken darstell-
bar waren und thatsächlich dargestellt wurden, man machte die fröh-
liche Erfahrung, dass sich mit Techniken trefflich streiten liess, und so
hub allmälig in den archäologischen und kunstgewerblichen Zeit-
schriften jene wilde Jagd nach Techniken an, deren Ende vielleicht
nicht früher zu erwarten steht, bis alle technischen Möglichkeiten für
ein jedes minder komplicirte Ornament erschöpft sein werden und man
sich am Ende zuverlässig dort befinden wird, von wo man ausge-
gangen ist.


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[VII/0013] Einleitung. hang existirt, die in Rede stehende materialistische Strömung in der Auffassung der Kunstanfänge nichts Anderes ist, als so zu sagen die Uebertragung des Darwinismus auf ein Gebiet des Geisteslebens. So wie aber zwischen Darwinisten und Darwin, ist auch zwischen Sem- perianern und Semper scharf und streng zu unterscheiden. Wenn Sem- per sagte: beim Werden einer Kunstform kämen auch Stoff und Technik in Betracht, so meinten die Semperianer sofort schlechtweg: die Kunstform wäre eine Produkt aus Stoff und Technik. Die „Technik“ wurde rasch zum beliebtesten Schlagwort; im Sprachgebrauch erschien es bald gleichwerthig mit „Kunst“ und schliesslich hörte man es so- gar öfter als das Wort Kunst. Von „Kunst“ sprach der Naive, der Laie; fachmännischer klang es, von „Technik“ zu sprechen. Es mag paradox erscheinen, dass die extreme Partei der Kunst- materialisten auch unter den ausübenden Künstlern zahlreiche An- hänger gefunden hat. Dies geschah gewiss nicht im Geiste Gottfried Sempers, der wohl der Letzte gewesen wäre, der an Stelle des frei schöpferischen Kunstwollens einen wesentlich mechanisch-materiellen Nachahmungstrieb hätte gesetzt wissen wollen. Aber das Missverständ- niss, als handelte es sich hiebei um die reine Idee des grossen Künstler- Gelehrten Semper, war einmal vorhanden, und die natürliche Autorität, welche die ausübenden Künstler in Sachen der „Technik“ genossen, brachte es ganz wesentlich mit sich, dass die Gelehrten, die Archäologen und Kunsthistoriker, klein beigaben und Jenen das Feld überliessen, wo nur irgendwie die „Technik“ in Frage kommen konnte, von der sie — die Gelehrten — selbst entweder gar nichts oder nur wenig ver- standen. Erst im Laufe der letzteren Jahre wurden auch die Gelehrten kühner. Das Wort „Technik“ erwies sich als äusserst geduldig, man fand, dass die meisten Ornamente in verschiedenen Techniken darstell- bar waren und thatsächlich dargestellt wurden, man machte die fröh- liche Erfahrung, dass sich mit Techniken trefflich streiten liess, und so hub allmälig in den archäologischen und kunstgewerblichen Zeit- schriften jene wilde Jagd nach Techniken an, deren Ende vielleicht nicht früher zu erwarten steht, bis alle technischen Möglichkeiten für ein jedes minder komplicirte Ornament erschöpft sein werden und man sich am Ende zuverlässig dort befinden wird, von wo man ausge- gangen ist.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. VII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/13>, abgerufen am 23.11.2024.