Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751.

Bild:
<< vorherige Seite



ihre vormals zärtlich geliebte Tochter zu werfen
und von ihr den letzten Abschied zu nehmen.
Der Vater war der untröstlichen Mutter bis an
die Saalthüre gefolget: aber keines von beyden
war im Stande, in denselben hineinzutreten. Die
Mutter sagte sie müßte ihr Herzenskind noch ein-
mal sehen: oder sie würde ihrer selbst niemals
froh werden. Allein sie wurden sich beyde einig,
ihre traurige Neubegierde bis den folgenden Tag
aufzuhalten, und gingen, nachdem sie sich bey der
Hand gefaßt hatten, beyde untröstlich und sprach-
los wieder weg: indem sich der nagende Kummer
über ihre Gesichter ausbreitete, die sie von einan-
der abkehrten, als wenn sie nicht vermögend wä-
ren, einer des andern Jammer anzusehen.

Als sie alle weg waren, begab ich mich in mein
Zimmer und schickte nach meinem Vetter Jakob.
Diesen hinterbrachte ich das Verlangen seiner
Schwester in Absicht auf die Leichenpredigt bey
ihrer Beerdigung, und stellte ihm vor, wie nöthig
es wäre, daß der Geistliche, wer er auch seyn soll-
te, die baldigste Nachricht, welche die Sache lei-
den wollte, davon bekäme.

Er beklagte den Tod des hochwürdigen D.
Lewin, der, wie er sagte, ein großer Bewunderer
seiner Schwester gewesen, gleichwie sie eine Be-
wunderinn von ihm, und sich am besten unter al-
len zu diesem Amte geschickt haben würde.

Von Herrn Brand redete er mit großer Bit-
terkeit, und war geneigt, auf dessen schlechte E[r-]
kundigung, nach seiner Schwester Lebensart in

London



ihre vormals zaͤrtlich geliebte Tochter zu werfen
und von ihr den letzten Abſchied zu nehmen.
Der Vater war der untroͤſtlichen Mutter bis an
die Saalthuͤre gefolget: aber keines von beyden
war im Stande, in denſelben hineinzutreten. Die
Mutter ſagte ſie muͤßte ihr Herzenskind noch ein-
mal ſehen: oder ſie wuͤrde ihrer ſelbſt niemals
froh werden. Allein ſie wurden ſich beyde einig,
ihre traurige Neubegierde bis den folgenden Tag
aufzuhalten, und gingen, nachdem ſie ſich bey der
Hand gefaßt hatten, beyde untroͤſtlich und ſprach-
los wieder weg: indem ſich der nagende Kummer
uͤber ihre Geſichter ausbreitete, die ſie von einan-
der abkehrten, als wenn ſie nicht vermoͤgend waͤ-
ren, einer des andern Jammer anzuſehen.

Als ſie alle weg waren, begab ich mich in mein
Zimmer und ſchickte nach meinem Vetter Jakob.
Dieſen hinterbrachte ich das Verlangen ſeiner
Schweſter in Abſicht auf die Leichenpredigt bey
ihrer Beerdigung, und ſtellte ihm vor, wie noͤthig
es waͤre, daß der Geiſtliche, wer er auch ſeyn ſoll-
te, die baldigſte Nachricht, welche die Sache lei-
den wollte, davon bekaͤme.

Er beklagte den Tod des hochwuͤrdigen D.
Lewin, der, wie er ſagte, ein großer Bewunderer
ſeiner Schweſter geweſen, gleichwie ſie eine Be-
wunderinn von ihm, und ſich am beſten unter al-
len zu dieſem Amte geſchickt haben wuͤrde.

Von Herrn Brand redete er mit großer Bit-
terkeit, und war geneigt, auf deſſen ſchlechte E[r-]
kundigung, nach ſeiner Schweſter Lebensart in

London
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0590" n="584"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
ihre vormals za&#x0364;rtlich geliebte Tochter zu werfen<lb/>
und von ihr den letzten Ab&#x017F;chied zu nehmen.<lb/>
Der Vater war der untro&#x0364;&#x017F;tlichen Mutter bis an<lb/>
die Saalthu&#x0364;re gefolget: aber keines von beyden<lb/>
war im Stande, in den&#x017F;elben hineinzutreten. Die<lb/>
Mutter &#x017F;agte &#x017F;ie mu&#x0364;ßte ihr Herzenskind noch ein-<lb/>
mal &#x017F;ehen: oder &#x017F;ie wu&#x0364;rde ihrer &#x017F;elb&#x017F;t niemals<lb/>
froh werden. Allein &#x017F;ie wurden &#x017F;ich beyde einig,<lb/>
ihre traurige Neubegierde bis den folgenden Tag<lb/>
aufzuhalten, und gingen, nachdem &#x017F;ie &#x017F;ich bey der<lb/>
Hand gefaßt hatten, beyde untro&#x0364;&#x017F;tlich und &#x017F;prach-<lb/>
los wieder weg: indem &#x017F;ich der nagende Kummer<lb/>
u&#x0364;ber ihre Ge&#x017F;ichter ausbreitete, die &#x017F;ie von einan-<lb/>
der abkehrten, als wenn &#x017F;ie nicht vermo&#x0364;gend wa&#x0364;-<lb/>
ren, einer des andern Jammer anzu&#x017F;ehen.</p><lb/>
            <p>Als &#x017F;ie alle weg waren, begab ich mich in mein<lb/>
Zimmer und &#x017F;chickte nach meinem Vetter Jakob.<lb/>
Die&#x017F;en hinterbrachte ich das Verlangen &#x017F;einer<lb/>
Schwe&#x017F;ter in Ab&#x017F;icht auf die Leichenpredigt bey<lb/>
ihrer Beerdigung, und &#x017F;tellte ihm vor, wie no&#x0364;thig<lb/>
es wa&#x0364;re, daß der Gei&#x017F;tliche, wer er auch &#x017F;eyn &#x017F;oll-<lb/>
te, die baldig&#x017F;te Nachricht, welche die Sache lei-<lb/>
den wollte, davon beka&#x0364;me.</p><lb/>
            <p>Er beklagte den Tod des hochwu&#x0364;rdigen D.<lb/>
Lewin, der, wie er &#x017F;agte, ein großer Bewunderer<lb/>
&#x017F;einer Schwe&#x017F;ter gewe&#x017F;en, gleichwie &#x017F;ie eine Be-<lb/>
wunderinn von ihm, und &#x017F;ich am be&#x017F;ten unter al-<lb/>
len zu die&#x017F;em Amte ge&#x017F;chickt haben wu&#x0364;rde.</p><lb/>
            <p>Von Herrn Brand redete er mit großer Bit-<lb/>
terkeit, und war geneigt, auf de&#x017F;&#x017F;en &#x017F;chlechte E<supplied>r-</supplied><lb/>
kundigung, nach &#x017F;einer Schwe&#x017F;ter Lebensart in<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">London</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[584/0590] ihre vormals zaͤrtlich geliebte Tochter zu werfen und von ihr den letzten Abſchied zu nehmen. Der Vater war der untroͤſtlichen Mutter bis an die Saalthuͤre gefolget: aber keines von beyden war im Stande, in denſelben hineinzutreten. Die Mutter ſagte ſie muͤßte ihr Herzenskind noch ein- mal ſehen: oder ſie wuͤrde ihrer ſelbſt niemals froh werden. Allein ſie wurden ſich beyde einig, ihre traurige Neubegierde bis den folgenden Tag aufzuhalten, und gingen, nachdem ſie ſich bey der Hand gefaßt hatten, beyde untroͤſtlich und ſprach- los wieder weg: indem ſich der nagende Kummer uͤber ihre Geſichter ausbreitete, die ſie von einan- der abkehrten, als wenn ſie nicht vermoͤgend waͤ- ren, einer des andern Jammer anzuſehen. Als ſie alle weg waren, begab ich mich in mein Zimmer und ſchickte nach meinem Vetter Jakob. Dieſen hinterbrachte ich das Verlangen ſeiner Schweſter in Abſicht auf die Leichenpredigt bey ihrer Beerdigung, und ſtellte ihm vor, wie noͤthig es waͤre, daß der Geiſtliche, wer er auch ſeyn ſoll- te, die baldigſte Nachricht, welche die Sache lei- den wollte, davon bekaͤme. Er beklagte den Tod des hochwuͤrdigen D. Lewin, der, wie er ſagte, ein großer Bewunderer ſeiner Schweſter geweſen, gleichwie ſie eine Be- wunderinn von ihm, und ſich am beſten unter al- len zu dieſem Amte geſchickt haben wuͤrde. Von Herrn Brand redete er mit großer Bit- terkeit, und war geneigt, auf deſſen ſchlechte Er- kundigung, nach ſeiner Schweſter Lebensart in London

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751/590
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751, S. 584. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751/590>, abgerufen am 22.11.2024.