dieß geschehen war, ließ sie gegen Fr. Lovick und gegen mich; weil ich eben hereintrat, als sie wie- der zu sich selbst kam; ihren Lobeserhebungen von der Fräulein, ihren Klagen um sie, und den hef- tigen Reden wider euch den Zügel schießen: je- doch waren ihre heftige Reden so eingeschränkt, daß ich in denselben ein wohlerzogenes Frauen zim- mer und in ihren Klagen eine christlichgemäßigte Leidenschaft bemerken konnte.
Sie äußerte ein ungedultiges Verlangen, die Leiche zu sehen. Die Frauensleute gingen mit ihr hinauf: aber sie gestunden, daß sie bey dieser Gelegenheit selbst allzu sehr gerührt gewesen, ihr ausnehmend bewegliches Bezeigen zu beschreiben.
Mit zitternder Ungedult stieß sie den Deckel des Sarges beyseite. Sie benetzte das Gesicht mit ihren Thränen, und küßte ihre Wangen und Stirn, als wenn sie lebendig wäre. Es wäre Sie, in der That, waren ihre Worte! Sie, ihre süße Fräulein! Sie vollkommen selbst! Auch der Tod, der alle Dinge veränderte, hätte keine Macht, ihre liebliche Bildung zu ändern! Sie bewunderte die Heiterkeit in ihrem Gesichte. Sie wäre sonder Zweisel glücklich, sprach sie, wie sie ihr geschrieben hätte, daß sie es seyn würde: al- lein wie viele elende Personen hätte sie hinter sich gelassen! - - Die gute Frau beklagte hiebey, daß sie selbst so lange gelebet, um eine derselben zu seyn.
Sie beredeten sie mit vieler Mühe, von der Leiche wieder wegzugehen: und da sie in das näch-
ste
dieß geſchehen war, ließ ſie gegen Fr. Lovick und gegen mich; weil ich eben hereintrat, als ſie wie- der zu ſich ſelbſt kam; ihren Lobeserhebungen von der Fraͤulein, ihren Klagen um ſie, und den hef- tigen Reden wider euch den Zuͤgel ſchießen: je- doch waren ihre heftige Reden ſo eingeſchraͤnkt, daß ich in denſelben ein wohlerzogenes Frauen zim- mer und in ihren Klagen eine chriſtlichgemaͤßigte Leidenſchaft bemerken konnte.
Sie aͤußerte ein ungedultiges Verlangen, die Leiche zu ſehen. Die Frauensleute gingen mit ihr hinauf: aber ſie geſtunden, daß ſie bey dieſer Gelegenheit ſelbſt allzu ſehr geruͤhrt geweſen, ihr ausnehmend bewegliches Bezeigen zu beſchreiben.
Mit zitternder Ungedult ſtieß ſie den Deckel des Sarges beyſeite. Sie benetzte das Geſicht mit ihren Thraͤnen, und kuͤßte ihre Wangen und Stirn, als wenn ſie lebendig waͤre. Es waͤre Sie, in der That, waren ihre Worte! Sie, ihre ſuͤße Fraͤulein! Sie vollkommen ſelbſt! Auch der Tod, der alle Dinge veraͤnderte, haͤtte keine Macht, ihre liebliche Bildung zu aͤndern! Sie bewunderte die Heiterkeit in ihrem Geſichte. Sie waͤre ſonder Zweiſel gluͤcklich, ſprach ſie, wie ſie ihr geſchrieben haͤtte, daß ſie es ſeyn wuͤrde: al- lein wie viele elende Perſonen haͤtte ſie hinter ſich gelaſſen! ‒ ‒ Die gute Frau beklagte hiebey, daß ſie ſelbſt ſo lange gelebet, um eine derſelben zu ſeyn.
Sie beredeten ſie mit vieler Muͤhe, von der Leiche wieder wegzugehen: und da ſie in das naͤch-
ſte
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dieß geſchehen war, ließ ſie gegen Fr. Lovick und
gegen mich; weil ich eben hereintrat, als ſie wie-
der zu ſich ſelbſt kam; ihren Lobeserhebungen von
der Fraͤulein, ihren Klagen um ſie, und den hef-
tigen Reden wider euch den Zuͤgel ſchießen: je-
doch waren ihre heftige Reden ſo eingeſchraͤnkt,
daß ich in denſelben ein wohlerzogenes Frauen zim-
mer und in ihren Klagen eine chriſtlichgemaͤßigte
Leidenſchaft bemerken konnte.
Sie aͤußerte ein ungedultiges Verlangen,
die Leiche zu ſehen. Die Frauensleute gingen mit
ihr hinauf: aber ſie geſtunden, daß ſie bey dieſer
Gelegenheit ſelbſt allzu ſehr geruͤhrt geweſen, ihr
ausnehmend bewegliches Bezeigen zu beſchreiben.
Mit zitternder Ungedult ſtieß ſie den Deckel
des Sarges beyſeite. Sie benetzte das Geſicht
mit ihren Thraͤnen, und kuͤßte ihre Wangen und
Stirn, als wenn ſie lebendig waͤre. Es waͤre
Sie, in der That, waren ihre Worte! Sie, ihre
ſuͤße Fraͤulein! Sie vollkommen ſelbſt! Auch der
Tod, der alle Dinge veraͤnderte, haͤtte keine
Macht, ihre liebliche Bildung zu aͤndern! Sie
bewunderte die Heiterkeit in ihrem Geſichte. Sie
waͤre ſonder Zweiſel gluͤcklich, ſprach ſie, wie ſie
ihr geſchrieben haͤtte, daß ſie es ſeyn wuͤrde: al-
lein wie viele elende Perſonen haͤtte ſie hinter ſich
gelaſſen! ‒ ‒ Die gute Frau beklagte hiebey, daß
ſie ſelbſt ſo lange gelebet, um eine derſelben zu
ſeyn.
Sie beredeten ſie mit vieler Muͤhe, von der
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751, S. 486. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751/492>, abgerufen am 22.11.2024.
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