Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750.

Bild:
<< vorherige Seite



hätte, deren sie sonst nicht im geringsten hätte
verdächtig werden können; wie sie des Bewußt-
seyns von dem verdienten Ruhm, woraus sich die
Mutter hoffnungsvoller Kinder eine Ehre machen
kann, beraubt ist; wie ein jeder, der sie besuchet,
oder von ihr besuchet wird, durch stumme Zeichen
und Blicke, welche mehr bedeuten, als Worte
ausdrücken können, Beyleid bezeuget, wo sie alle
Glück zu wünschen pflegeten; wie das angenom-
mene Stillschweigen derselben sie kränket, der
mitleidige Blick ein trauriges Andenken in ihr
erneuret, der halb verschluckte Seufzer, in jenen,
tiefere Seufzer aus ihr presset, und die wegge-
wandten Augen derselben, welche eine aufsteigen-
de Thräne zurückzuhalten suchen, bey ihr Thrä-
nen reizen, die nicht zurück gehalten seyn wollen.

Wenn ich diese Dinge erwäge, und ferner die
Marter bedenke, welche das heftigere Herz mei-
nes Vaters zerreißet, weil es sich nicht durch die
Thränen erleichtern kann, die bey sanftern Ge-
müthern den quälenden Kummer zu den Augen
ableiten; wenn ich die überkochende Unruhe mei-
nes ungedultigen und hitzigen Bruders überle-
ge, der in dem Fall einer Schwester, aus welcher
er sich vormals einen Ruhm machte, seine Ehre
mit dem empfindlichsten Verdruß gekränket sie-
het; wenn ich den Stolz einer ältern Schwe-
ster,
welche mit Widerwillen die Ehrenbezeigun-
gen gegen eine jüngere, wobey sie selbst hintan-
gesetzet war, ertragen hatte; und endlich die
Schande betrachte, welche zweenen Onkeln

verur-



haͤtte, deren ſie ſonſt nicht im geringſten haͤtte
verdaͤchtig werden koͤnnen; wie ſie des Bewußt-
ſeyns von dem verdienten Ruhm, woraus ſich die
Mutter hoffnungsvoller Kinder eine Ehre machen
kann, beraubt iſt; wie ein jeder, der ſie beſuchet,
oder von ihr beſuchet wird, durch ſtumme Zeichen
und Blicke, welche mehr bedeuten, als Worte
ausdruͤcken koͤnnen, Beyleid bezeuget, wo ſie alle
Gluͤck zu wuͤnſchen pflegeten; wie das angenom-
mene Stillſchweigen derſelben ſie kraͤnket, der
mitleidige Blick ein trauriges Andenken in ihr
erneuret, der halb verſchluckte Seufzer, in jenen,
tiefere Seufzer aus ihr preſſet, und die wegge-
wandten Augen derſelben, welche eine aufſteigen-
de Thraͤne zuruͤckzuhalten ſuchen, bey ihr Thraͤ-
nen reizen, die nicht zuruͤck gehalten ſeyn wollen.

Wenn ich dieſe Dinge erwaͤge, und ferner die
Marter bedenke, welche das heftigere Herz mei-
nes Vaters zerreißet, weil es ſich nicht durch die
Thraͤnen erleichtern kann, die bey ſanftern Ge-
muͤthern den quaͤlenden Kummer zu den Augen
ableiten; wenn ich die uͤberkochende Unruhe mei-
nes ungedultigen und hitzigen Bruders uͤberle-
ge, der in dem Fall einer Schweſter, aus welcher
er ſich vormals einen Ruhm machte, ſeine Ehre
mit dem empfindlichſten Verdruß gekraͤnket ſie-
het; wenn ich den Stolz einer aͤltern Schwe-
ſter,
welche mit Widerwillen die Ehrenbezeigun-
gen gegen eine juͤngere, wobey ſie ſelbſt hintan-
geſetzet war, ertragen hatte; und endlich die
Schande betrachte, welche zweenen Onkeln

verur-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0646" n="640"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
ha&#x0364;tte, deren &#x017F;ie &#x017F;on&#x017F;t nicht im gering&#x017F;ten ha&#x0364;tte<lb/>
verda&#x0364;chtig werden ko&#x0364;nnen; wie &#x017F;ie des Bewußt-<lb/>
&#x017F;eyns von dem verdienten Ruhm, woraus &#x017F;ich die<lb/>
Mutter hoffnungsvoller Kinder eine Ehre machen<lb/>
kann, beraubt i&#x017F;t; wie ein jeder, der &#x017F;ie be&#x017F;uchet,<lb/>
oder von ihr be&#x017F;uchet wird, durch &#x017F;tumme Zeichen<lb/>
und Blicke, welche mehr bedeuten, als Worte<lb/>
ausdru&#x0364;cken ko&#x0364;nnen, Beyleid bezeuget, wo &#x017F;ie alle<lb/>
Glu&#x0364;ck zu wu&#x0364;n&#x017F;chen pflegeten; wie das angenom-<lb/>
mene Still&#x017F;chweigen der&#x017F;elben &#x017F;ie kra&#x0364;nket, der<lb/>
mitleidige Blick ein trauriges Andenken in ihr<lb/>
erneuret, der halb ver&#x017F;chluckte Seufzer, in jenen,<lb/>
tiefere Seufzer aus <hi rendition="#fr">ihr</hi> pre&#x017F;&#x017F;et, und die wegge-<lb/>
wandten Augen der&#x017F;elben, welche eine auf&#x017F;teigen-<lb/>
de Thra&#x0364;ne zuru&#x0364;ckzuhalten &#x017F;uchen, bey <hi rendition="#fr">ihr</hi> Thra&#x0364;-<lb/>
nen reizen, die nicht zuru&#x0364;ck gehalten &#x017F;eyn wollen.</p><lb/>
          <p>Wenn ich die&#x017F;e Dinge erwa&#x0364;ge, und ferner die<lb/>
Marter bedenke, welche das heftigere Herz mei-<lb/>
nes <hi rendition="#fr">Vaters</hi> zerreißet, weil es &#x017F;ich nicht durch die<lb/>
Thra&#x0364;nen erleichtern kann, die bey &#x017F;anftern Ge-<lb/>
mu&#x0364;thern den qua&#x0364;lenden Kummer zu den Augen<lb/>
ableiten; wenn ich die u&#x0364;berkochende Unruhe mei-<lb/>
nes ungedultigen und hitzigen <hi rendition="#fr">Bruders</hi> u&#x0364;berle-<lb/>
ge, der in dem Fall einer Schwe&#x017F;ter, aus welcher<lb/>
er &#x017F;ich vormals einen Ruhm machte, &#x017F;eine Ehre<lb/>
mit dem empfindlich&#x017F;ten Verdruß gekra&#x0364;nket &#x017F;ie-<lb/>
het; wenn ich den Stolz einer <hi rendition="#fr">a&#x0364;ltern Schwe-<lb/>
&#x017F;ter,</hi> welche mit Widerwillen die Ehrenbezeigun-<lb/>
gen gegen eine ju&#x0364;ngere, wobey &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t hintan-<lb/>
ge&#x017F;etzet war, ertragen hatte; und endlich die<lb/>
Schande betrachte, welche <hi rendition="#fr">zweenen Onkeln</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="catch">verur-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[640/0646] haͤtte, deren ſie ſonſt nicht im geringſten haͤtte verdaͤchtig werden koͤnnen; wie ſie des Bewußt- ſeyns von dem verdienten Ruhm, woraus ſich die Mutter hoffnungsvoller Kinder eine Ehre machen kann, beraubt iſt; wie ein jeder, der ſie beſuchet, oder von ihr beſuchet wird, durch ſtumme Zeichen und Blicke, welche mehr bedeuten, als Worte ausdruͤcken koͤnnen, Beyleid bezeuget, wo ſie alle Gluͤck zu wuͤnſchen pflegeten; wie das angenom- mene Stillſchweigen derſelben ſie kraͤnket, der mitleidige Blick ein trauriges Andenken in ihr erneuret, der halb verſchluckte Seufzer, in jenen, tiefere Seufzer aus ihr preſſet, und die wegge- wandten Augen derſelben, welche eine aufſteigen- de Thraͤne zuruͤckzuhalten ſuchen, bey ihr Thraͤ- nen reizen, die nicht zuruͤck gehalten ſeyn wollen. Wenn ich dieſe Dinge erwaͤge, und ferner die Marter bedenke, welche das heftigere Herz mei- nes Vaters zerreißet, weil es ſich nicht durch die Thraͤnen erleichtern kann, die bey ſanftern Ge- muͤthern den quaͤlenden Kummer zu den Augen ableiten; wenn ich die uͤberkochende Unruhe mei- nes ungedultigen und hitzigen Bruders uͤberle- ge, der in dem Fall einer Schweſter, aus welcher er ſich vormals einen Ruhm machte, ſeine Ehre mit dem empfindlichſten Verdruß gekraͤnket ſie- het; wenn ich den Stolz einer aͤltern Schwe- ſter, welche mit Widerwillen die Ehrenbezeigun- gen gegen eine juͤngere, wobey ſie ſelbſt hintan- geſetzet war, ertragen hatte; und endlich die Schande betrachte, welche zweenen Onkeln verur-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/646
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 640. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/646>, abgerufen am 22.11.2024.