"Was kann ich denn anders wünschen, mei- "ne liebste, meine einzige Freundinn, als nur "den Tod? - - Und was ist der Tod, wenn man "alles erwäget? Er ist nur der Beschluß eines "sterblichen Lebens. Er ist nur die Vollendung "eines vorgesetzten Laufes; eine erquickende Her- "berge nach einer beschwerlichen Reise; das En- "de eines sorgevollen und mühsamen Lebens; "und, wenn er glücklich ausfällt, der Anfang zu "einem Leben in unsterblicher Glückseligkeit.
"Wenn ich nun nicht sterbe: so kann es sich "vielleicht zutragen, daß ich überfallen werde, "wenn ich weniger dazu bereit bin. Wäre ich "denen Unglücksfällen entgangen, unter welchen "ich seufze: so hätte es mitten in einer freudigen "und erwartungsvollen Hoffnung geschehen mö- "gen; wenn mein Herz vor Verlangen nach "dem Leben ängstlich und heftig geschlagen, und "die Eitelkeit dieser Erden mich eingenommen "hätte.
"Nun aber, meine Wertheste, erlauben Sie "mir dieß zu Jhrer Befriedigung zu sagen, nun "wünsche ich zwar nicht zu leben: jedoch möchte "ich auch nicht, wie ein nichtswürdiger und feiger "Soldat, meinen Posten verlassen, wenn ich ihn "behaupten kann, und es meine Schuldigkeit "ist, ihn zu behaupten.
"Jch bin freylich, mehr als einmal, durch so "sündliche Gedanken getrieben worden. Aber "es war in meiner äußersten Beklemmung. "Einmal, insonderheit, das habe ich Ursache zu
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„Was kann ich denn anders wuͤnſchen, mei- „ne liebſte, meine einzige Freundinn, als nur „den Tod? ‒ ‒ Und was iſt der Tod, wenn man „alles erwaͤget? Er iſt nur der Beſchluß eines „ſterblichen Lebens. Er iſt nur die Vollendung „eines vorgeſetzten Laufes; eine erquickende Her- „berge nach einer beſchwerlichen Reiſe; das En- „de eines ſorgevollen und muͤhſamen Lebens; „und, wenn er gluͤcklich ausfaͤllt, der Anfang zu „einem Leben in unſterblicher Gluͤckſeligkeit.
„Wenn ich nun nicht ſterbe: ſo kann es ſich „vielleicht zutragen, daß ich uͤberfallen werde, „wenn ich weniger dazu bereit bin. Waͤre ich „denen Ungluͤcksfaͤllen entgangen, unter welchen „ich ſeufze: ſo haͤtte es mitten in einer freudigen „und erwartungsvollen Hoffnung geſchehen moͤ- „gen; wenn mein Herz vor Verlangen nach „dem Leben aͤngſtlich und heftig geſchlagen, und „die Eitelkeit dieſer Erden mich eingenommen „haͤtte.
„Nun aber, meine Wertheſte, erlauben Sie „mir dieß zu Jhrer Befriedigung zu ſagen, nun „wuͤnſche ich zwar nicht zu leben: jedoch moͤchte „ich auch nicht, wie ein nichtswuͤrdiger und feiger „Soldat, meinen Poſten verlaſſen, wenn ich ihn „behaupten kann, und es meine Schuldigkeit „iſt, ihn zu behaupten.
„Jch bin freylich, mehr als einmal, durch ſo „ſuͤndliche Gedanken getrieben worden. Aber „es war in meiner aͤußerſten Beklemmung. „Einmal, inſonderheit, das habe ich Urſache zu
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„Was kann ich denn anders wuͤnſchen, mei-
„ne liebſte, meine einzige Freundinn, als nur
„den Tod? ‒ ‒ Und was iſt der Tod, wenn man
„alles erwaͤget? Er iſt nur der Beſchluß eines
„ſterblichen Lebens. Er iſt nur die Vollendung
„eines vorgeſetzten Laufes; eine erquickende Her-
„berge nach einer beſchwerlichen Reiſe; das En-
„de eines ſorgevollen und muͤhſamen Lebens;
„und, wenn er gluͤcklich ausfaͤllt, der Anfang zu
„einem Leben in unſterblicher Gluͤckſeligkeit.
„Wenn ich nun nicht ſterbe: ſo kann es ſich
„vielleicht zutragen, daß ich uͤberfallen werde,
„wenn ich weniger dazu bereit bin. Waͤre ich
„denen Ungluͤcksfaͤllen entgangen, unter welchen
„ich ſeufze: ſo haͤtte es mitten in einer freudigen
„und erwartungsvollen Hoffnung geſchehen moͤ-
„gen; wenn mein Herz vor Verlangen nach
„dem Leben aͤngſtlich und heftig geſchlagen, und
„die Eitelkeit dieſer Erden mich eingenommen
„haͤtte.
„Nun aber, meine Wertheſte, erlauben Sie
„mir dieß zu Jhrer Befriedigung zu ſagen, nun
„wuͤnſche ich zwar nicht zu leben: jedoch moͤchte
„ich auch nicht, wie ein nichtswuͤrdiger und feiger
„Soldat, meinen Poſten verlaſſen, wenn ich ihn
„behaupten kann, und es meine Schuldigkeit
„iſt, ihn zu behaupten.
„Jch bin freylich, mehr als einmal, durch ſo
„ſuͤndliche Gedanken getrieben worden. Aber
„es war in meiner aͤußerſten Beklemmung.
„Einmal, inſonderheit, das habe ich Urſache zu
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 489. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/495>, abgerufen am 22.11.2024.
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