"Verweise, oder zu einer Erinnerung, gegen sie "zu öffnen, damit ihre kühnere Augen mir nicht "gebieten möchten, in mich selbst zu gehen, und "von ihnen nicht zu erwarten, daß sie vollkom- "men seyn sollten.
"Und soll ich dem nichtswürdigen Menschen "ein Recht geben, mir seine Großmuth und sein "Mitleiden vorzuhalten, ja mir vielleicht gar "Vorwürfe zu machen, daß ich im Stande ge- "wesen bin, solche Schandthaten zu vergeben?
"Es ist wahr, ich machte mir vormals Hoff- "nung, daß ich so glücklich seyn möchte, ihn auf "bessere Wege zu bringen: indem ich mir gar "nicht träumen ließ, daß er ein so vorsetzlich "schändlicher Kerl wäre. Jch glaubte vergebens, "daß er mich aufrichtig genug liebte, meinen "Rath zu seinem Besten anzunehmen und das "Beyspiel, welches ich ihm zu geben mich in de- "müthiger Hoffnung geschickt hielte, bey sich et- "was gelten zu lassen: und das um so viel mehr, "da er keine geringe Meynung von meiner Tu- "gend und von meinem Verstande hatte. Aber "was ist nun für Hoffnung zu dieser meiner er- "sten Hoffnung übrig? - - Sollte ich ihn hey- "rathen: was würde ich für eine Person spielen; "wenn ich einem Menschen, dem ich Gelegenheit "gegeben hätte, mich von allen meinen Pflichten "abzuleiten, Tugend und Sittenlehre predigen "wollte? Setzen Sie ferner, daß ich von einem "solchen Manne Kinder bekommen möchte. Was "meynen Sie wohl? Müßte es einer nachdenken-
"den
„Verweiſe, oder zu einer Erinnerung, gegen ſie „zu oͤffnen, damit ihre kuͤhnere Augen mir nicht „gebieten moͤchten, in mich ſelbſt zu gehen, und „von ihnen nicht zu erwarten, daß ſie vollkom- „men ſeyn ſollten.
„Und ſoll ich dem nichtswuͤrdigen Menſchen „ein Recht geben, mir ſeine Großmuth und ſein „Mitleiden vorzuhalten, ja mir vielleicht gar „Vorwuͤrfe zu machen, daß ich im Stande ge- „weſen bin, ſolche Schandthaten zu vergeben?
„Es iſt wahr, ich machte mir vormals Hoff- „nung, daß ich ſo gluͤcklich ſeyn moͤchte, ihn auf „beſſere Wege zu bringen: indem ich mir gar „nicht traͤumen ließ, daß er ein ſo vorſetzlich „ſchaͤndlicher Kerl waͤre. Jch glaubte vergebens, „daß er mich aufrichtig genug liebte, meinen „Rath zu ſeinem Beſten anzunehmen und das „Beyſpiel, welches ich ihm zu geben mich in de- „muͤthiger Hoffnung geſchickt hielte, bey ſich et- „was gelten zu laſſen: und das um ſo viel mehr, „da er keine geringe Meynung von meiner Tu- „gend und von meinem Verſtande hatte. Aber „was iſt nun fuͤr Hoffnung zu dieſer meiner er- „ſten Hoffnung uͤbrig? ‒ ‒ Sollte ich ihn hey- „rathen: was wuͤrde ich fuͤr eine Perſon ſpielen; „wenn ich einem Menſchen, dem ich Gelegenheit „gegeben haͤtte, mich von allen meinen Pflichten „abzuleiten, Tugend und Sittenlehre predigen „wollte? Setzen Sie ferner, daß ich von einem „ſolchen Manne Kinder bekommen moͤchte. Was „meynen Sie wohl? Muͤßte es einer nachdenken-
„den
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„Verweiſe, oder zu einer Erinnerung, gegen ſie
„zu oͤffnen, damit ihre kuͤhnere Augen mir nicht
„gebieten moͤchten, in mich ſelbſt zu gehen, und
„von ihnen nicht zu erwarten, daß ſie vollkom-
„men ſeyn ſollten.
„Und ſoll ich dem nichtswuͤrdigen Menſchen
„ein Recht geben, mir ſeine Großmuth und ſein
„Mitleiden vorzuhalten, ja mir vielleicht gar
„Vorwuͤrfe zu machen, daß ich im Stande ge-
„weſen bin, ſolche Schandthaten zu vergeben?
„Es iſt wahr, ich machte mir vormals Hoff-
„nung, daß ich ſo gluͤcklich ſeyn moͤchte, ihn auf
„beſſere Wege zu bringen: indem ich mir gar
„nicht traͤumen ließ, daß er ein ſo vorſetzlich
„ſchaͤndlicher Kerl waͤre. Jch glaubte vergebens,
„daß er mich aufrichtig genug liebte, meinen
„Rath zu ſeinem Beſten anzunehmen und das
„Beyſpiel, welches ich ihm zu geben mich in de-
„muͤthiger Hoffnung geſchickt hielte, bey ſich et-
„was gelten zu laſſen: und das um ſo viel mehr,
„da er keine geringe Meynung von meiner Tu-
„gend und von meinem Verſtande hatte. Aber
„was iſt nun fuͤr Hoffnung zu dieſer meiner er-
„ſten Hoffnung uͤbrig? ‒ ‒ Sollte ich ihn hey-
„rathen: was wuͤrde ich fuͤr eine Perſon ſpielen;
„wenn ich einem Menſchen, dem ich Gelegenheit
„gegeben haͤtte, mich von allen meinen Pflichten
„abzuleiten, Tugend und Sittenlehre predigen
„wollte? Setzen Sie ferner, daß ich von einem
„ſolchen Manne Kinder bekommen moͤchte. Was
„meynen Sie wohl? Muͤßte es einer nachdenken-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 486. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/492>, abgerufen am 22.11.2024.
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