Der sechs und sechzigste Brief von Fräulein Clarissa Harlowe an Fräulein Howe.
Sonnabends, den 23ten Jul.
Was für Kummer, meine liebste Freundinn, macht mir Jhre liebreiche Sorge für mei- ne Wohlfarth! Wie viel stärker und zärtlicher sind doch die Bande einer reinen Freundschaft, und die Vereinigung ähnlicher Gemüther, als die Bande der Natur! Der angenehme Sänger in Jsrael hatte wohl Ursache zu sagen, wenn er das Lob der Freundschaft zwischen ihm und seinem geliebten Freunde aufs höchste treiben wollte, daß die Liebe Jonathans gegen ihn wunderbar wäre, daß sie die Liebe der Frauen überträffe! Was für einen erhabenen Begriff giebt es von der See- le Jonathans, die zu diesem heiligen Bande so liebreich eingerichtet war, wenn wir nur anneh- men können, daß seine Freundschaft der Freund- schaft meiner Anna Howe gegen Jhre gefallene Clarissa gleich gewesen! Aber ob ich mir gleich einen Ruhm aus Jhrer gütigen Liebe zu mir ma- chen kann: so denken Sie doch, meine Werthe- ste, was für einen Kummer ein nicht unedies Gemüth empfinden müsse; wenn die Verbind- lichkeit ganz an einer Seite lieget; wenn ich eben
zu
Der ſechs und ſechzigſte Brief von Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein Howe.
Sonnabends, den 23ten Jul.
Was fuͤr Kummer, meine liebſte Freundinn, macht mir Jhre liebreiche Sorge fuͤr mei- ne Wohlfarth! Wie viel ſtaͤrker und zaͤrtlicher ſind doch die Bande einer reinen Freundſchaft, und die Vereinigung aͤhnlicher Gemuͤther, als die Bande der Natur! Der angenehme Saͤnger in Jſrael hatte wohl Urſache zu ſagen, wenn er das Lob der Freundſchaft zwiſchen ihm und ſeinem geliebten Freunde aufs hoͤchſte treiben wollte, daß die Liebe Jonathans gegen ihn wunderbar waͤre, daß ſie die Liebe der Frauen uͤbertraͤffe! Was fuͤr einen erhabenen Begriff giebt es von der See- le Jonathans, die zu dieſem heiligen Bande ſo liebreich eingerichtet war, wenn wir nur anneh- men koͤnnen, daß ſeine Freundſchaft der Freund- ſchaft meiner Anna Howe gegen Jhre gefallene Clariſſa gleich geweſen! Aber ob ich mir gleich einen Ruhm aus Jhrer guͤtigen Liebe zu mir ma- chen kann: ſo denken Sie doch, meine Werthe- ſte, was fuͤr einen Kummer ein nicht unedies Gemuͤth empfinden muͤſſe; wenn die Verbind- lichkeit ganz an einer Seite lieget; wenn ich eben
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Der ſechs und ſechzigſte Brief
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
Sonnabends, den 23ten Jul.
Was fuͤr Kummer, meine liebſte Freundinn,
macht mir Jhre liebreiche Sorge fuͤr mei-
ne Wohlfarth! Wie viel ſtaͤrker und zaͤrtlicher
ſind doch die Bande einer reinen Freundſchaft,
und die Vereinigung aͤhnlicher Gemuͤther, als die
Bande der Natur! Der angenehme Saͤnger in
Jſrael hatte wohl Urſache zu ſagen, wenn er das
Lob der Freundſchaft zwiſchen ihm und ſeinem
geliebten Freunde aufs hoͤchſte treiben wollte, daß
die Liebe Jonathans gegen ihn wunderbar waͤre,
daß ſie die Liebe der Frauen uͤbertraͤffe! Was
fuͤr einen erhabenen Begriff giebt es von der See-
le Jonathans, die zu dieſem heiligen Bande ſo
liebreich eingerichtet war, wenn wir nur anneh-
men koͤnnen, daß ſeine Freundſchaft der Freund-
ſchaft meiner Anna Howe gegen Jhre gefallene
Clariſſa gleich geweſen! Aber ob ich mir gleich
einen Ruhm aus Jhrer guͤtigen Liebe zu mir ma-
chen kann: ſo denken Sie doch, meine Werthe-
ſte, was fuͤr einen Kummer ein nicht unedies
Gemuͤth empfinden muͤſſe; wenn die Verbind-
lichkeit ganz an einer Seite lieget; wenn ich eben
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 479. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/485>, abgerufen am 23.11.2024.
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