mit mir halten, vermuthlich auch nicht, daß sie zu Mittage mit mir essen werde. Eine kleine wun- derliche Seele! Was macht sie sich durch ihre übertriebne Bedenklichkeit für Unruhen! - - Alles, was ich ihr zu nahe gethan, würde, unter zehn von ihrem Geschlechte, von neun Theilen bloß für einen Spaß, einen losen Streich, gehal- ten, und folglich darüber gelacht worden seyn. Je mehr sie daraus macht: desto beschwerlicher ist es ihr selbst sowohl als mir.
Wäre es nicht besser, Bruder, nach ih- rer eignen Art zu denken, daß sie nicht so em- pfindlich schiene, als sie sich selbst das Ansehen geben wird, wenn sie itzt sehr zornig ist.
Jedoch vielleicht bin ich mehr besorgt, als nö- thig ist. Jch glaube, ich bin es. Meine Furcht rühret mehr von ihrer übertriebnen Bedenklich- keit her als von einer außerordentlichen Ursache, die ich ihr zum Widerwillen gegeben hätte. Das nächste mal mag sie sich selbst glücklich schätzen, wenn sie nicht ärger davon kommt.
Das liebste Kind war die verwichene Nacht so erschrocken und so ermüdet, daß es kein Wun- der ist, wenn sie diesen Morgen ausruhet.
Jch hoffe, sie hat mehr Ruhe gehabt als ich. Sanft und lieblich, hoffe ich, ist ihr Schlummer gewesen, damit sie in einer erträglichen Gemüths- verfassung zu mir kommen möge. Ganz voll lieblicher Schamröthe und Verwirrung - Jch weiß, wie sie aussehen wird! - Aber warum soll-
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mit mir halten, vermuthlich auch nicht, daß ſie zu Mittage mit mir eſſen werde. Eine kleine wun- derliche Seele! Was macht ſie ſich durch ihre uͤbertriebne Bedenklichkeit fuͤr Unruhen! ‒ ‒ Alles, was ich ihr zu nahe gethan, wuͤrde, unter zehn von ihrem Geſchlechte, von neun Theilen bloß fuͤr einen Spaß, einen loſen Streich, gehal- ten, und folglich daruͤber gelacht worden ſeyn. Je mehr ſie daraus macht: deſto beſchwerlicher iſt es ihr ſelbſt ſowohl als mir.
Waͤre es nicht beſſer, Bruder, nach ih- rer eignen Art zu denken, daß ſie nicht ſo em- pfindlich ſchiene, als ſie ſich ſelbſt das Anſehen geben wird, wenn ſie itzt ſehr zornig iſt.
Jedoch vielleicht bin ich mehr beſorgt, als noͤ- thig iſt. Jch glaube, ich bin es. Meine Furcht ruͤhret mehr von ihrer uͤbertriebnen Bedenklich- keit her als von einer außerordentlichen Urſache, die ich ihr zum Widerwillen gegeben haͤtte. Das naͤchſte mal mag ſie ſich ſelbſt gluͤcklich ſchaͤtzen, wenn ſie nicht aͤrger davon kommt.
Das liebſte Kind war die verwichene Nacht ſo erſchrocken und ſo ermuͤdet, daß es kein Wun- der iſt, wenn ſie dieſen Morgen ausruhet.
Jch hoffe, ſie hat mehr Ruhe gehabt als ich. Sanft und lieblich, hoffe ich, iſt ihr Schlummer geweſen, damit ſie in einer ertraͤglichen Gemuͤths- verfaſſung zu mir kommen moͤge. Ganz voll lieblicher Schamroͤthe und Verwirrung ‒ Jch weiß, wie ſie ausſehen wird! ‒ Aber warum ſoll-
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mit mir halten, vermuthlich auch nicht, daß ſie zu
Mittage mit mir eſſen werde. Eine kleine wun-
derliche Seele! Was macht ſie ſich durch ihre
uͤbertriebne Bedenklichkeit fuͤr Unruhen! ‒ ‒
Alles, was ich ihr zu nahe gethan, wuͤrde, unter
zehn von ihrem Geſchlechte, von neun Theilen
bloß fuͤr einen Spaß, einen loſen Streich, gehal-
ten, und folglich daruͤber gelacht worden ſeyn.
Je mehr ſie daraus macht: deſto beſchwerlicher
iſt es ihr ſelbſt ſowohl als mir.
Waͤre es nicht beſſer, Bruder, nach ih-
rer eignen Art zu denken, daß ſie nicht ſo em-
pfindlich ſchiene, als ſie ſich ſelbſt das Anſehen
geben wird, wenn ſie itzt ſehr zornig iſt.
Jedoch vielleicht bin ich mehr beſorgt, als noͤ-
thig iſt. Jch glaube, ich bin es. Meine Furcht
ruͤhret mehr von ihrer uͤbertriebnen Bedenklich-
keit her als von einer außerordentlichen Urſache,
die ich ihr zum Widerwillen gegeben haͤtte. Das
naͤchſte mal mag ſie ſich ſelbſt gluͤcklich ſchaͤtzen,
wenn ſie nicht aͤrger davon kommt.
Das liebſte Kind war die verwichene Nacht
ſo erſchrocken und ſo ermuͤdet, daß es kein Wun-
der iſt, wenn ſie dieſen Morgen ausruhet.
Jch hoffe, ſie hat mehr Ruhe gehabt als ich.
Sanft und lieblich, hoffe ich, iſt ihr Schlummer
geweſen, damit ſie in einer ertraͤglichen Gemuͤths-
verfaſſung zu mir kommen moͤge. Ganz voll
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 88. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/94>, abgerufen am 03.12.2024.
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