unvollkommen seyn; und ich würde mir, so lange ich lebte, einen Vorwurf machen.
Wäre ich versichert, daß dieser gute Grund geleget sey; und warum sollte ich es nicht hoffen? so würde ich nicht daran zweifeln, sie noch auf meine eigne Bedingungen zu bekommen; wenn sie ihre Gnadenzeit versäumen sollte. Jch wür- de mir unter diesen Umständen auch gar keine Zweifel einfallen lassen, ob in ihr diejenige Zu- neigung wieder lebendig geworden seyn möch- te, die bey einer Weibsperson gegen den Vater ihres ersten Kindes, es mag in oder außer der Ehe gebohren seyn, selten ausbleibet.
Jch bitte dich, Bruder, bedenke diese groß- müthige Gesinnung. Erlaube mir, sie einen unterscheidenden Vorzug an mir vor andern lie- derlichen Brüdern zu nennen, die fast alle bloß ihren Neigungen folgen, ohne sich um die Folgen zu bekümmern: nicht anders, als der strotzig ein- hergehende und treulose Vogel, der von einer ge- fiederten Schönheit zur andern flieget, seinem ge- bieterischen Vergnügen genug zu thun, und es seinen glatten Buhlschaften überlässet, die Frucht in Hölen und Winkeln, welche sie selbst auf- gesuchet haben, auszubrüten.
Der
Fünfter Theil. Y y
unvollkommen ſeyn; und ich wuͤrde mir, ſo lange ich lebte, einen Vorwurf machen.
Waͤre ich verſichert, daß dieſer gute Grund geleget ſey; und warum ſollte ich es nicht hoffen? ſo wuͤrde ich nicht daran zweifeln, ſie noch auf meine eigne Bedingungen zu bekommen; wenn ſie ihre Gnadenzeit verſaͤumen ſollte. Jch wuͤr- de mir unter dieſen Umſtaͤnden auch gar keine Zweifel einfallen laſſen, ob in ihr diejenige Zu- neigung wieder lebendig geworden ſeyn moͤch- te, die bey einer Weibsperſon gegen den Vater ihres erſten Kindes, es mag in oder außer der Ehe gebohren ſeyn, ſelten ausbleibet.
Jch bitte dich, Bruder, bedenke dieſe groß- muͤthige Geſinnung. Erlaube mir, ſie einen unterſcheidenden Vorzug an mir vor andern lie- derlichen Bruͤdern zu nennen, die faſt alle bloß ihren Neigungen folgen, ohne ſich um die Folgen zu bekuͤmmern: nicht anders, als der ſtrotzig ein- hergehende und treuloſe Vogel, der von einer ge- fiederten Schoͤnheit zur andern flieget, ſeinem ge- bieteriſchen Vergnuͤgen genug zu thun, und es ſeinen glatten Buhlſchaften uͤberlaͤſſet, die Frucht in Hoͤlen und Winkeln, welche ſie ſelbſt auf- geſuchet haben, auszubruͤten.
Der
Fuͤnfter Theil. Y y
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[705/0711]
unvollkommen ſeyn; und ich wuͤrde mir, ſo lange
ich lebte, einen Vorwurf machen.
Waͤre ich verſichert, daß dieſer gute Grund
geleget ſey; und warum ſollte ich es nicht hoffen?
ſo wuͤrde ich nicht daran zweifeln, ſie noch auf
meine eigne Bedingungen zu bekommen; wenn
ſie ihre Gnadenzeit verſaͤumen ſollte. Jch wuͤr-
de mir unter dieſen Umſtaͤnden auch gar keine
Zweifel einfallen laſſen, ob in ihr diejenige Zu-
neigung wieder lebendig geworden ſeyn moͤch-
te, die bey einer Weibsperſon gegen den Vater
ihres erſten Kindes, es mag in oder außer der
Ehe gebohren ſeyn, ſelten ausbleibet.
Jch bitte dich, Bruder, bedenke dieſe groß-
muͤthige Geſinnung. Erlaube mir, ſie einen
unterſcheidenden Vorzug an mir vor andern lie-
derlichen Bruͤdern zu nennen, die faſt alle bloß
ihren Neigungen folgen, ohne ſich um die Folgen
zu bekuͤmmern: nicht anders, als der ſtrotzig ein-
hergehende und treuloſe Vogel, der von einer ge-
fiederten Schoͤnheit zur andern flieget, ſeinem ge-
bieteriſchen Vergnuͤgen genug zu thun, und es
ſeinen glatten Buhlſchaften uͤberlaͤſſet, die Frucht
in Hoͤlen und Winkeln, welche ſie ſelbſt auf-
geſuchet haben, auszubruͤten.
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 705. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/711>, abgerufen am 24.11.2024.
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