Meine Mutter plaget mich. Doch ich lese mei- nen Brief über, ich habe das schon einmahl ge- schrieben: allein sie hat mich gantz aus meiner Fas- sung gebracht, wie Sie es nennen. Sie hat in der That den Herrn Hickmann in die Catechis- mus-Lehre kriegen wollen: er sollte antworten, ob er um unsern Briefwechsel etwas wüßte. Die Fra- gen waren sehr scharf. Jch glaube, daß ich ein erbärmliches Mitleiden mit dem erbärmlichen Men- schen haben muß: denn ich kann nicht leiden, daß sich ein anderer als ich, das Recht heraus nimmt, ihn für einen Narren zu halten.
Es schien, daß die gute Frau sich selbst vergaß. Sie redete sehr laut: vielleicht dachte sie, daß mein Vater wieder aufgelebet wäre. Herrn Hickmanns Sanft- muth hätte sie wohl von dem Gegentheil überzeugen können: denn mein Vater würde eben so laut gere- det haben. Wenn ich noch daran gedencke, wie die Leute ein paar Ellen von einander stunden, und einander so zubölckten und schrien, als wenn sie sich eine halbe viertel Stunde weit vom Wege verirret hätten, und sich wieder zurecht helfen wollten.
Mein Verweiß ist mir schon zum voraus gewiß. Allein ich habe Jhnen schon geschrieben, daß mich meine Mutter geplagt hat. Wenn ich nicht ein wenig böse wäre, so würde niemand glauben, daß ich meiner Eltern Tochter bin. Sie müssen mich nicht gar zu hart ausschelten, denn so viel habe ich von Jhnen gelernet, daß ich meinen Fehler nie ent- schuldige. Jch habe gesündiget! Das ist genug. Wenn Sie es nicht vor genug halten, so sind Sie
nicht
D d 2
Meine Mutter plaget mich. Doch ich leſe mei- nen Brief uͤber, ich habe das ſchon einmahl ge- ſchrieben: allein ſie hat mich gantz aus meiner Faſ- ſung gebracht, wie Sie es nennen. Sie hat in der That den Herrn Hickmann in die Catechiſ- mus-Lehre kriegen wollen: er ſollte antworten, ob er um unſern Briefwechſel etwas wuͤßte. Die Fra- gen waren ſehr ſcharf. Jch glaube, daß ich ein erbaͤrmliches Mitleiden mit dem erbaͤrmlichen Men- ſchen haben muß: denn ich kann nicht leiden, daß ſich ein anderer als ich, das Recht heraus nimmt, ihn fuͤr einen Narren zu halten.
Es ſchien, daß die gute Frau ſich ſelbſt vergaß. Sie redete ſehr laut: vielleicht dachte ſie, daß mein Vater wieder aufgelebet waͤre. Herrn Hickmanns Sanft- muth haͤtte ſie wohl von dem Gegentheil uͤberzeugen koͤnnen: denn mein Vater wuͤrde eben ſo laut gere- det haben. Wenn ich noch daran gedencke, wie die Leute ein paar Ellen von einander ſtunden, und einander ſo zuboͤlckten und ſchrien, als wenn ſie ſich eine halbe viertel Stunde weit vom Wege verirret haͤtten, und ſich wieder zurecht helfen wollten.
Mein Verweiß iſt mir ſchon zum voraus gewiß. Allein ich habe Jhnen ſchon geſchrieben, daß mich meine Mutter geplagt hat. Wenn ich nicht ein wenig boͤſe waͤre, ſo wuͤrde niemand glauben, daß ich meiner Eltern Tochter bin. Sie muͤſſen mich nicht gar zu hart ausſchelten, denn ſo viel habe ich von Jhnen gelernet, daß ich meinen Fehler nie ent- ſchuldige. Jch habe geſuͤndiget! Das iſt genug. Wenn Sie es nicht vor genug halten, ſo ſind Sie
nicht
D d 2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0433"n="419"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p>Meine Mutter plaget mich. Doch ich leſe mei-<lb/>
nen Brief uͤber, ich habe das ſchon einmahl ge-<lb/>ſchrieben: allein ſie hat mich gantz aus meiner Faſ-<lb/>ſung gebracht, wie Sie es nennen. Sie hat in<lb/>
der That den Herrn <hirendition="#fr">Hickmann</hi> in die Catechiſ-<lb/>
mus-Lehre kriegen wollen: er ſollte antworten, ob<lb/>
er um unſern Briefwechſel etwas wuͤßte. Die Fra-<lb/>
gen waren ſehr ſcharf. Jch glaube, daß ich ein<lb/>
erbaͤrmliches Mitleiden mit dem erbaͤrmlichen Men-<lb/>ſchen haben muß: denn ich kann nicht leiden, daß<lb/>ſich ein anderer als ich, das Recht heraus nimmt, ihn<lb/>
fuͤr einen Narren zu halten.</p><lb/><p>Es ſchien, daß die gute Frau ſich ſelbſt vergaß. Sie<lb/>
redete ſehr laut: vielleicht dachte ſie, daß mein Vater<lb/>
wieder aufgelebet waͤre. Herrn <hirendition="#fr">Hickmanns</hi> Sanft-<lb/>
muth haͤtte ſie wohl von dem Gegentheil uͤberzeugen<lb/>
koͤnnen: denn mein Vater wuͤrde eben ſo laut gere-<lb/>
det haben. Wenn ich noch daran gedencke, wie<lb/>
die Leute ein paar Ellen von einander ſtunden, und<lb/>
einander ſo zuboͤlckten und ſchrien, als wenn ſie ſich<lb/>
eine halbe viertel Stunde weit vom Wege verirret<lb/>
haͤtten, und ſich wieder zurecht helfen wollten.</p><lb/><p>Mein Verweiß iſt mir ſchon zum voraus gewiß.<lb/>
Allein ich habe Jhnen ſchon geſchrieben, daß mich<lb/>
meine Mutter geplagt hat. Wenn ich nicht ein<lb/>
wenig boͤſe waͤre, ſo wuͤrde niemand glauben, daß<lb/>
ich meiner Eltern Tochter bin. Sie muͤſſen mich<lb/>
nicht gar zu hart ausſchelten, denn ſo viel habe ich<lb/>
von Jhnen gelernet, daß ich meinen Fehler nie ent-<lb/>ſchuldige. Jch habe geſuͤndiget! Das iſt genug.<lb/>
Wenn Sie es nicht vor genug halten, ſo ſind Sie<lb/><fwplace="bottom"type="sig">D d 2</fw><fwplace="bottom"type="catch">nicht</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[419/0433]
Meine Mutter plaget mich. Doch ich leſe mei-
nen Brief uͤber, ich habe das ſchon einmahl ge-
ſchrieben: allein ſie hat mich gantz aus meiner Faſ-
ſung gebracht, wie Sie es nennen. Sie hat in
der That den Herrn Hickmann in die Catechiſ-
mus-Lehre kriegen wollen: er ſollte antworten, ob
er um unſern Briefwechſel etwas wuͤßte. Die Fra-
gen waren ſehr ſcharf. Jch glaube, daß ich ein
erbaͤrmliches Mitleiden mit dem erbaͤrmlichen Men-
ſchen haben muß: denn ich kann nicht leiden, daß
ſich ein anderer als ich, das Recht heraus nimmt, ihn
fuͤr einen Narren zu halten.
Es ſchien, daß die gute Frau ſich ſelbſt vergaß. Sie
redete ſehr laut: vielleicht dachte ſie, daß mein Vater
wieder aufgelebet waͤre. Herrn Hickmanns Sanft-
muth haͤtte ſie wohl von dem Gegentheil uͤberzeugen
koͤnnen: denn mein Vater wuͤrde eben ſo laut gere-
det haben. Wenn ich noch daran gedencke, wie
die Leute ein paar Ellen von einander ſtunden, und
einander ſo zuboͤlckten und ſchrien, als wenn ſie ſich
eine halbe viertel Stunde weit vom Wege verirret
haͤtten, und ſich wieder zurecht helfen wollten.
Mein Verweiß iſt mir ſchon zum voraus gewiß.
Allein ich habe Jhnen ſchon geſchrieben, daß mich
meine Mutter geplagt hat. Wenn ich nicht ein
wenig boͤſe waͤre, ſo wuͤrde niemand glauben, daß
ich meiner Eltern Tochter bin. Sie muͤſſen mich
nicht gar zu hart ausſchelten, denn ſo viel habe ich
von Jhnen gelernet, daß ich meinen Fehler nie ent-
ſchuldige. Jch habe geſuͤndiget! Das iſt genug.
Wenn Sie es nicht vor genug halten, ſo ſind Sie
nicht
D d 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 419. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/433>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.