aber doch in der Seele, daß sie fast alle Stunden das schreibt, was sie auf den Hertzen hat; daß ich mit ihr unter einem Dache bin, und mich doch nicht unterstehen darf, einen Blick in die Briefe zu thun, die vielleicht alle meine List fruchtloß machen.
Sollte es wol eine große Sünde seyn, den alten Kerl von der Welt zu helfen, der ihre Briefe trägt, und ihm sein Geheimniß abzunehmen. Wenn ich ihn mit Gelde bestechen wollte, so könnte ich gantz bey ihr ausgethan werden, wo er mein Anbieten ver- riethe. Er scheint der Armuth so gewohnt zu seyn, daß er gantz vergnügt dabey ist, wenn er nur von der Hand in den Mund hat. Er scheint nicht einmahl ein Verlangen zu haben, künftig besser leben zu kön- nen, als er es gewohnt ist. Einen solchen Kerl kann man nicht bestechen? oder man muß sich stel- len, als machte man ihn zu seinem vertrauten Freun- de. Die Bestechung muß sich in Ehrlichkeit bey ihm verkleiden, wenn sie nicht abgewiesen werden will. Was hat man sonst für Hoffnung, den zu bestechen, der nichts hoffet und nichts wünschet.
Der Kerl hat nur ein halbes Leben, das für ihn eine Last und keine Glückseeligkeit ist. Könnte man mich zu einem gantzen Mörder machen, wenn ich es ihm nähme? Er mag leben! Wenn ich ein Kö- nig, ein Staats-Minister, ein Anton Perez(+)
wäre:
(+)Anton Perez war der erste Staats-Minister Philip des zweyten, Königes von Spanien, auf dessen Befehl er den Don Iuan de Escouedo er- morden läßt, sich aber dadurch selbst ins Un- glück stürtzete.
Dritter Theil. S
aber doch in der Seele, daß ſie faſt alle Stunden das ſchreibt, was ſie auf den Hertzen hat; daß ich mit ihr unter einem Dache bin, und mich doch nicht unterſtehen darf, einen Blick in die Briefe zu thun, die vielleicht alle meine Liſt fruchtloß machen.
Sollte es wol eine große Suͤnde ſeyn, den alten Kerl von der Welt zu helfen, der ihre Briefe traͤgt, und ihm ſein Geheimniß abzunehmen. Wenn ich ihn mit Gelde beſtechen wollte, ſo koͤnnte ich gantz bey ihr ausgethan werden, wo er mein Anbieten ver- riethe. Er ſcheint der Armuth ſo gewohnt zu ſeyn, daß er gantz vergnuͤgt dabey iſt, wenn er nur von der Hand in den Mund hat. Er ſcheint nicht einmahl ein Verlangen zu haben, kuͤnftig beſſer leben zu koͤn- nen, als er es gewohnt iſt. Einen ſolchen Kerl kann man nicht beſtechen? oder man muß ſich ſtel- len, als machte man ihn zu ſeinem vertrauten Freun- de. Die Beſtechung muß ſich in Ehrlichkeit bey ihm verkleiden, wenn ſie nicht abgewieſen werden will. Was hat man ſonſt fuͤr Hoffnung, den zu beſtechen, der nichts hoffet und nichts wuͤnſchet.
Der Kerl hat nur ein halbes Leben, das fuͤr ihn eine Laſt und keine Gluͤckſeeligkeit iſt. Koͤnnte man mich zu einem gantzen Moͤrder machen, wenn ich es ihm naͤhme? Er mag leben! Wenn ich ein Koͤ- nig, ein Staats-Miniſter, ein Anton Perez(†)
waͤre:
(†)Anton Perez war der erſte Staats-Miniſter Philip des zweyten, Koͤniges von Spanien, auf deſſen Befehl er den Don Iuan de Eſcouedo er- morden laͤßt, ſich aber dadurch ſelbſt ins Un- gluͤck ſtuͤrtzete.
Dritter Theil. S
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0287"n="273"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/>
aber doch in der Seele, daß ſie faſt alle Stunden<lb/>
das ſchreibt, was ſie auf den Hertzen hat; daß ich<lb/>
mit ihr unter einem Dache bin, und mich doch nicht<lb/>
unterſtehen darf, einen Blick in die Briefe zu thun,<lb/>
die vielleicht alle meine Liſt fruchtloß machen.</p><lb/><p>Sollte es wol eine große Suͤnde ſeyn, den alten<lb/>
Kerl von der Welt zu helfen, der ihre Briefe traͤgt,<lb/>
und ihm ſein Geheimniß abzunehmen. Wenn ich<lb/>
ihn mit Gelde beſtechen wollte, ſo koͤnnte ich gantz<lb/>
bey ihr ausgethan werden, wo er mein Anbieten ver-<lb/>
riethe. Er ſcheint der Armuth ſo gewohnt zu ſeyn,<lb/>
daß er gantz vergnuͤgt dabey iſt, wenn er nur von der<lb/>
Hand in den Mund hat. Er ſcheint nicht einmahl<lb/>
ein Verlangen zu haben, kuͤnftig beſſer leben zu koͤn-<lb/>
nen, als er es gewohnt iſt. Einen ſolchen Kerl<lb/>
kann man nicht beſtechen? oder man muß ſich ſtel-<lb/>
len, als machte man ihn zu ſeinem vertrauten Freun-<lb/>
de. Die Beſtechung muß ſich in Ehrlichkeit bey<lb/>
ihm verkleiden, wenn ſie nicht abgewieſen werden<lb/>
will. Was hat man ſonſt fuͤr Hoffnung, den zu<lb/>
beſtechen, der nichts hoffet und nichts wuͤnſchet.</p><lb/><p>Der Kerl hat nur ein halbes Leben, das fuͤr ihn<lb/>
eine Laſt und keine Gluͤckſeeligkeit iſt. Koͤnnte man<lb/>
mich zu einem gantzen Moͤrder machen, wenn ich<lb/>
es ihm naͤhme? Er mag leben! Wenn ich ein Koͤ-<lb/>
nig, ein Staats-Miniſter, ein <hirendition="#fr">Anton Perez</hi><noteplace="foot"n="(†)"><hirendition="#fr">Anton Perez</hi> war der erſte Staats-Miniſter<lb/>
Philip des zweyten, Koͤniges von Spanien, auf<lb/>
deſſen Befehl er den <hirendition="#aq">Don Iuan de Eſcouedo</hi> er-<lb/>
morden laͤßt, ſich aber dadurch ſelbſt ins Un-<lb/>
gluͤck ſtuͤrtzete.</note><lb/><fwplace="bottom"type="catch">waͤre:</fw><lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#fr">Dritter Theil.</hi> S</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[273/0287]
aber doch in der Seele, daß ſie faſt alle Stunden
das ſchreibt, was ſie auf den Hertzen hat; daß ich
mit ihr unter einem Dache bin, und mich doch nicht
unterſtehen darf, einen Blick in die Briefe zu thun,
die vielleicht alle meine Liſt fruchtloß machen.
Sollte es wol eine große Suͤnde ſeyn, den alten
Kerl von der Welt zu helfen, der ihre Briefe traͤgt,
und ihm ſein Geheimniß abzunehmen. Wenn ich
ihn mit Gelde beſtechen wollte, ſo koͤnnte ich gantz
bey ihr ausgethan werden, wo er mein Anbieten ver-
riethe. Er ſcheint der Armuth ſo gewohnt zu ſeyn,
daß er gantz vergnuͤgt dabey iſt, wenn er nur von der
Hand in den Mund hat. Er ſcheint nicht einmahl
ein Verlangen zu haben, kuͤnftig beſſer leben zu koͤn-
nen, als er es gewohnt iſt. Einen ſolchen Kerl
kann man nicht beſtechen? oder man muß ſich ſtel-
len, als machte man ihn zu ſeinem vertrauten Freun-
de. Die Beſtechung muß ſich in Ehrlichkeit bey
ihm verkleiden, wenn ſie nicht abgewieſen werden
will. Was hat man ſonſt fuͤr Hoffnung, den zu
beſtechen, der nichts hoffet und nichts wuͤnſchet.
Der Kerl hat nur ein halbes Leben, das fuͤr ihn
eine Laſt und keine Gluͤckſeeligkeit iſt. Koͤnnte man
mich zu einem gantzen Moͤrder machen, wenn ich
es ihm naͤhme? Er mag leben! Wenn ich ein Koͤ-
nig, ein Staats-Miniſter, ein Anton Perez (†)
waͤre:
(†) Anton Perez war der erſte Staats-Miniſter
Philip des zweyten, Koͤniges von Spanien, auf
deſſen Befehl er den Don Iuan de Eſcouedo er-
morden laͤßt, ſich aber dadurch ſelbſt ins Un-
gluͤck ſtuͤrtzete.
Dritter Theil. S
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/287>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.