Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749.

Bild:
<< vorherige Seite



wegen ein großes Uebel zu feyn, weil es nahe be-
vor stand. Denn ich unverständiges Kind stelle-
te mir nicht einmahl träumend vor, was der Aus-
gang unserer Unterredung seyn würde. Das
glaubte ich, daß ich einen Zanck mit ihm haben
würde, weil er meinen Brief nicht bekommen hatte.
Allein nach meiner damahligen Art zu dencken wür-
de es sehr wunderlich seyn, (wie ich Jhnen in mei-
nem letzten Briefe meldete) wenn ich in einer sol-
chen Versuchung unterliegen sollte, nachdem ich mich
gegen das Gebot derer die so viel Ehrfurcht von
mir fodern können, und deren Nahmen mir billig
heilig sind, so standhaft bewiesen hatte, da ich glaub-
te, daß sie ihre Rechte misbrauchten; und nachdem
er mir durch seine Nachläßigkeit in Abhohlung mei-
nes Briefes so viele Ursache gegeben hatte, mis-
vergnügt gegen ihn zu thun.

Wie kurtz ist oft der Augenblick, der unser
Schicksaal entscheidet! Hätte ich nur noch zwey
Stunden gehabt, die Sache zu überlegen, und
mir diese neuen Einsichten (wenn ich sie so nennen
soll) zu Nutze zu machen! Allein vielleicht hätte
ich mich dennoch bewegen lassen, ihn zu sprechen!
Wie thöricht habe ich darin gehandelt, daß ich
ihm einige Hoffnung machte, ihm mündlich die
Ursachen zu sagen, wenn ich meinen Vorsatz än-
dern müßte!

Ach mein Schatz, ein allzu gutes und ein allzu
gefälliges Gemüth ist eine sehr gefährliche Sache,
und es pflegt sich selbst zu beleydigen, weil es sich
scheuet andere zu beleydigen.

Als



wegen ein großes Uebel zu feyn, weil es nahe be-
vor ſtand. Denn ich unverſtaͤndiges Kind ſtelle-
te mir nicht einmahl traͤumend vor, was der Aus-
gang unſerer Unterredung ſeyn wuͤrde. Das
glaubte ich, daß ich einen Zanck mit ihm haben
wuͤrde, weil er meinen Brief nicht bekommen hatte.
Allein nach meiner damahligen Art zu dencken wuͤr-
de es ſehr wunderlich ſeyn, (wie ich Jhnen in mei-
nem letzten Briefe meldete) wenn ich in einer ſol-
chen Verſuchung unterliegen ſollte, nachdem ich mich
gegen das Gebot derer die ſo viel Ehrfurcht von
mir fodern koͤnnen, und deren Nahmen mir billig
heilig ſind, ſo ſtandhaft bewieſen hatte, da ich glaub-
te, daß ſie ihre Rechte misbrauchten; und nachdem
er mir durch ſeine Nachlaͤßigkeit in Abhohlung mei-
nes Briefes ſo viele Urſache gegeben hatte, mis-
vergnuͤgt gegen ihn zu thun.

Wie kurtz iſt oft der Augenblick, der unſer
Schickſaal entſcheidet! Haͤtte ich nur noch zwey
Stunden gehabt, die Sache zu uͤberlegen, und
mir dieſe neuen Einſichten (wenn ich ſie ſo nennen
ſoll) zu Nutze zu machen! Allein vielleicht haͤtte
ich mich dennoch bewegen laſſen, ihn zu ſprechen!
Wie thoͤricht habe ich darin gehandelt, daß ich
ihm einige Hoffnung machte, ihm muͤndlich die
Urſachen zu ſagen, wenn ich meinen Vorſatz aͤn-
dern muͤßte!

Ach mein Schatz, ein allzu gutes und ein allzu
gefaͤlliges Gemuͤth iſt eine ſehr gefaͤhrliche Sache,
und es pflegt ſich ſelbſt zu beleydigen, weil es ſich
ſcheuet andere zu beleydigen.

Als
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0020" n="6"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
wegen ein großes Uebel zu feyn, weil es nahe be-<lb/>
vor &#x017F;tand. Denn ich unver&#x017F;ta&#x0364;ndiges Kind &#x017F;telle-<lb/>
te mir nicht einmahl tra&#x0364;umend vor, was der Aus-<lb/>
gang un&#x017F;erer Unterredung &#x017F;eyn wu&#x0364;rde. Das<lb/>
glaubte ich, daß ich einen Zanck mit ihm haben<lb/>
wu&#x0364;rde, weil er meinen Brief nicht bekommen hatte.<lb/>
Allein nach meiner damahligen Art zu dencken wu&#x0364;r-<lb/>
de es &#x017F;ehr wunderlich &#x017F;eyn, (wie ich Jhnen in mei-<lb/>
nem letzten Briefe meldete) wenn ich in einer &#x017F;ol-<lb/>
chen Ver&#x017F;uchung unterliegen &#x017F;ollte, nachdem ich mich<lb/>
gegen das Gebot derer die &#x017F;o viel Ehrfurcht von<lb/>
mir fodern ko&#x0364;nnen, und deren Nahmen mir billig<lb/>
heilig &#x017F;ind, &#x017F;o &#x017F;tandhaft bewie&#x017F;en hatte, da ich glaub-<lb/>
te, daß &#x017F;ie ihre Rechte misbrauchten; und nachdem<lb/>
er mir durch &#x017F;eine Nachla&#x0364;ßigkeit in Abhohlung mei-<lb/>
nes Briefes &#x017F;o viele Ur&#x017F;ache gegeben hatte, mis-<lb/>
vergnu&#x0364;gt gegen ihn zu thun.</p><lb/>
          <p>Wie kurtz i&#x017F;t oft der Augenblick, der un&#x017F;er<lb/>
Schick&#x017F;aal ent&#x017F;cheidet! Ha&#x0364;tte ich nur noch zwey<lb/>
Stunden gehabt, die Sache zu u&#x0364;berlegen, und<lb/>
mir die&#x017F;e neuen Ein&#x017F;ichten (wenn ich &#x017F;ie &#x017F;o nennen<lb/>
&#x017F;oll) zu Nutze zu machen! Allein vielleicht ha&#x0364;tte<lb/>
ich mich dennoch bewegen la&#x017F;&#x017F;en, ihn zu &#x017F;prechen!<lb/>
Wie tho&#x0364;richt habe ich darin gehandelt, daß ich<lb/>
ihm einige Hoffnung machte, ihm mu&#x0364;ndlich die<lb/>
Ur&#x017F;achen zu &#x017F;agen, wenn ich meinen Vor&#x017F;atz a&#x0364;n-<lb/>
dern mu&#x0364;ßte!</p><lb/>
          <p>Ach mein Schatz, ein allzu gutes und ein allzu<lb/>
gefa&#x0364;lliges Gemu&#x0364;th i&#x017F;t eine &#x017F;ehr gefa&#x0364;hrliche Sache,<lb/>
und es pflegt &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t zu beleydigen, weil es &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;cheuet andere zu beleydigen.</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">Als</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[6/0020] wegen ein großes Uebel zu feyn, weil es nahe be- vor ſtand. Denn ich unverſtaͤndiges Kind ſtelle- te mir nicht einmahl traͤumend vor, was der Aus- gang unſerer Unterredung ſeyn wuͤrde. Das glaubte ich, daß ich einen Zanck mit ihm haben wuͤrde, weil er meinen Brief nicht bekommen hatte. Allein nach meiner damahligen Art zu dencken wuͤr- de es ſehr wunderlich ſeyn, (wie ich Jhnen in mei- nem letzten Briefe meldete) wenn ich in einer ſol- chen Verſuchung unterliegen ſollte, nachdem ich mich gegen das Gebot derer die ſo viel Ehrfurcht von mir fodern koͤnnen, und deren Nahmen mir billig heilig ſind, ſo ſtandhaft bewieſen hatte, da ich glaub- te, daß ſie ihre Rechte misbrauchten; und nachdem er mir durch ſeine Nachlaͤßigkeit in Abhohlung mei- nes Briefes ſo viele Urſache gegeben hatte, mis- vergnuͤgt gegen ihn zu thun. Wie kurtz iſt oft der Augenblick, der unſer Schickſaal entſcheidet! Haͤtte ich nur noch zwey Stunden gehabt, die Sache zu uͤberlegen, und mir dieſe neuen Einſichten (wenn ich ſie ſo nennen ſoll) zu Nutze zu machen! Allein vielleicht haͤtte ich mich dennoch bewegen laſſen, ihn zu ſprechen! Wie thoͤricht habe ich darin gehandelt, daß ich ihm einige Hoffnung machte, ihm muͤndlich die Urſachen zu ſagen, wenn ich meinen Vorſatz aͤn- dern muͤßte! Ach mein Schatz, ein allzu gutes und ein allzu gefaͤlliges Gemuͤth iſt eine ſehr gefaͤhrliche Sache, und es pflegt ſich ſelbſt zu beleydigen, weil es ſich ſcheuet andere zu beleydigen. Als

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/20
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/20>, abgerufen am 25.04.2024.