Machen Sie vor jetzund nur meiner beschwer- lichen Gefangenschaft ein Ende! Vergönnen Sie mir, liebste Mutter, vor Jhren Augen so gut als ein anderes Dienst-Mädgen mich mit Nähen und Sticken zu beschäftigen: so werden Sie se- hen, daß ich von keinem Eigensinn und vorgefaß- ten Meinungen regiert werde. Stossen Sie mich nur nicht aus Jhrem Hause! Herr Sol- mes mag aus und eingehen wie es mein Vater für gut findet: wenn mir nur erlaubt ist, zu bleiben oder wegzugehen, und den Ausgang der Sache der Vorsehung zu überlassen.
Vergebt es mir, mein Bruder, daß ich auf eine gekünstelte Art mich wage, durch Euch, mei- nen Eltern ein an sie selbst gerichtetes Schrei- ben in die Hände zu spielen, da mir verboten ist, mich mit ihnen mündlich oder schriftlich zu un- terreden. Es ist etwas hartes für mich, daß man mich zwinget, auf eine List zu dencken. Vergebt mir auch, daß ich von dem edlen Her- tzen, in welchen Euer adliches Geblüte fliesset, und von der Gefälligkeit, die ich von einem Bruder geniesse, oben nach der Wahrheit geschrieben ha- be. Jhr habt mir zwar in der lezten Zeit we- nig Anlaß gegeben, Liebe oder Mitleiden von Euch zu erwarten: allein, ich mache doch hier- mit einen Anspruch an beydes, weil ich mir nicht bewust bin, eins von beyden durch meine Schuld verschertzt zu haben. Da, GOtt sey Danck, meine beyden Eltern noch am Leben sind, so erkenne ich dennoch wohl, daß es in den Hän-
den
Zweyter Theil. D
der Clariſſa.
Machen Sie vor jetzund nur meiner beſchwer- lichen Gefangenſchaft ein Ende! Vergoͤnnen Sie mir, liebſte Mutter, vor Jhren Augen ſo gut als ein anderes Dienſt-Maͤdgen mich mit Naͤhen und Sticken zu beſchaͤftigen: ſo werden Sie ſe- hen, daß ich von keinem Eigenſinn und vorgefaß- ten Meinungen regiert werde. Stoſſen Sie mich nur nicht aus Jhrem Hauſe! Herr Sol- mes mag aus und eingehen wie es mein Vater fuͤr gut findet: wenn mir nur erlaubt iſt, zu bleiben oder wegzugehen, und den Ausgang der Sache der Vorſehung zu uͤberlaſſen.
Vergebt es mir, mein Bruder, daß ich auf eine gekuͤnſtelte Art mich wage, durch Euch, mei- nen Eltern ein an ſie ſelbſt gerichtetes Schrei- ben in die Haͤnde zu ſpielen, da mir verboten iſt, mich mit ihnen muͤndlich oder ſchriftlich zu un- terreden. Es iſt etwas hartes fuͤr mich, daß man mich zwinget, auf eine Liſt zu dencken. Vergebt mir auch, daß ich von dem edlen Her- tzen, in welchen Euer adliches Gebluͤte flieſſet, und von der Gefaͤlligkeit, die ich von einem Bruder genieſſe, oben nach der Wahrheit geſchrieben ha- be. Jhr habt mir zwar in der lezten Zeit we- nig Anlaß gegeben, Liebe oder Mitleiden von Euch zu erwarten: allein, ich mache doch hier- mit einen Anſpruch an beydes, weil ich mir nicht bewuſt bin, eins von beyden durch meine Schuld verſchertzt zu haben. Da, GOtt ſey Danck, meine beyden Eltern noch am Leben ſind, ſo erkenne ich dennoch wohl, daß es in den Haͤn-
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der Clariſſa.
Machen Sie vor jetzund nur meiner beſchwer-
lichen Gefangenſchaft ein Ende! Vergoͤnnen Sie
mir, liebſte Mutter, vor Jhren Augen ſo gut als
ein anderes Dienſt-Maͤdgen mich mit Naͤhen
und Sticken zu beſchaͤftigen: ſo werden Sie ſe-
hen, daß ich von keinem Eigenſinn und vorgefaß-
ten Meinungen regiert werde. Stoſſen Sie
mich nur nicht aus Jhrem Hauſe! Herr Sol-
mes mag aus und eingehen wie es mein Vater
fuͤr gut findet: wenn mir nur erlaubt iſt, zu
bleiben oder wegzugehen, und den Ausgang der
Sache der Vorſehung zu uͤberlaſſen.
Vergebt es mir, mein Bruder, daß ich auf
eine gekuͤnſtelte Art mich wage, durch Euch, mei-
nen Eltern ein an ſie ſelbſt gerichtetes Schrei-
ben in die Haͤnde zu ſpielen, da mir verboten iſt,
mich mit ihnen muͤndlich oder ſchriftlich zu un-
terreden. Es iſt etwas hartes fuͤr mich, daß
man mich zwinget, auf eine Liſt zu dencken.
Vergebt mir auch, daß ich von dem edlen Her-
tzen, in welchen Euer adliches Gebluͤte flieſſet, und
von der Gefaͤlligkeit, die ich von einem Bruder
genieſſe, oben nach der Wahrheit geſchrieben ha-
be. Jhr habt mir zwar in der lezten Zeit we-
nig Anlaß gegeben, Liebe oder Mitleiden von
Euch zu erwarten: allein, ich mache doch hier-
mit einen Anſpruch an beydes, weil ich mir
nicht bewuſt bin, eins von beyden durch meine
Schuld verſchertzt zu haben. Da, GOtt ſey
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/55>, abgerufen am 23.11.2024.
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