Meine Liebe zu Jhnen, meiner besten Freun- din, kan das kaum verschmertzen, was Sie zur Entschuldigung meiner Mutter sagen, daß man mit niemand zürnen soll, weil er etwas unterläßt, welches er Recht hat nach eigenem Gutbefinden zu thun oder zu unterlassen. Wenn man von wahren Freunden redet, so läßt sich vieles gegen diesen Satz einwenden. Er möchte denn gelten, wenn aus der gebetenen Sache schlimme Folgen von grösserer oder eben so grosser Wichtigkeit für uns selbst zu besorgen sind, als der Dienst ist, den wir leisten sollen, und wenn wir nach dem Sprüchwort einem Freunde den Dorn aus dem Fuß ziehen und ihn uns in den Fuß stecken solten. Es würd eigennützig und unartig seyn, einen Freund um eine Gefälligkeit anzusprechen, die ihm eben so viel Ungelegenheit machte, als wir Erleichterung dadurch erlangen: und der bittende Theil würde durch seine unartige Bitte den gebetenen Freund thätlich erinnern, daß er ihm die Bitte abschlagen, und eine so eigennü- tzige Freundschaft verachten und aufheben solte, eine Freundschaft, die ohnehin auf der einen Sei- te nur in Worten und Schein bestanden hätte. Allein, wer durch ein kleines Uebel ein viel grös- seres Uebel seines Freundes abkauffen kan, und es nicht thun will, der wird in der That des Nahmens eines Freundes unwürdig: und dem wollte ich keinen Platz in meinem Hertzen gön- nen, solte es auch nur in dem äussersten Häut- chen seyn.
Jch
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der Clariſſa.
Meine Liebe zu Jhnen, meiner beſten Freun- din, kan das kaum verſchmertzen, was Sie zur Entſchuldigung meiner Mutter ſagen, daß man mit niemand zuͤrnen ſoll, weil er etwas unterlaͤßt, welches er Recht hat nach eigenem Gutbefinden zu thun oder zu unterlaſſen. Wenn man von wahren Freunden redet, ſo laͤßt ſich vieles gegen dieſen Satz einwenden. Er moͤchte denn gelten, wenn aus der gebetenen Sache ſchlimme Folgen von groͤſſerer oder eben ſo groſſer Wichtigkeit fuͤr uns ſelbſt zu beſorgen ſind, als der Dienſt iſt, den wir leiſten ſollen, und wenn wir nach dem Spruͤchwort einem Freunde den Dorn aus dem Fuß ziehen und ihn uns in den Fuß ſtecken ſolten. Es wuͤrd eigennuͤtzig und unartig ſeyn, einen Freund um eine Gefaͤlligkeit anzuſprechen, die ihm eben ſo viel Ungelegenheit machte, als wir Erleichterung dadurch erlangen: und der bittende Theil wuͤrde durch ſeine unartige Bitte den gebetenen Freund thaͤtlich erinnern, daß er ihm die Bitte abſchlagen, und eine ſo eigennuͤ- tzige Freundſchaft verachten und aufheben ſolte, eine Freundſchaft, die ohnehin auf der einen Sei- te nur in Worten und Schein beſtanden haͤtte. Allein, wer durch ein kleines Uebel ein viel groͤſ- ſeres Uebel ſeines Freundes abkauffen kan, und es nicht thun will, der wird in der That des Nahmens eines Freundes unwuͤrdig: und dem wollte ich keinen Platz in meinem Hertzen goͤn- nen, ſolte es auch nur in dem aͤuſſerſten Haͤut- chen ſeyn.
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der Clariſſa.
Meine Liebe zu Jhnen, meiner beſten Freun-
din, kan das kaum verſchmertzen, was Sie zur
Entſchuldigung meiner Mutter ſagen, daß man
mit niemand zuͤrnen ſoll, weil er etwas unterlaͤßt,
welches er Recht hat nach eigenem Gutbefinden
zu thun oder zu unterlaſſen. Wenn man von
wahren Freunden redet, ſo laͤßt ſich vieles gegen
dieſen Satz einwenden. Er moͤchte denn gelten,
wenn aus der gebetenen Sache ſchlimme Folgen
von groͤſſerer oder eben ſo groſſer Wichtigkeit
fuͤr uns ſelbſt zu beſorgen ſind, als der Dienſt
iſt, den wir leiſten ſollen, und wenn wir nach
dem Spruͤchwort einem Freunde den Dorn aus
dem Fuß ziehen und ihn uns in den Fuß ſtecken
ſolten. Es wuͤrd eigennuͤtzig und unartig ſeyn,
einen Freund um eine Gefaͤlligkeit anzuſprechen,
die ihm eben ſo viel Ungelegenheit machte, als
wir Erleichterung dadurch erlangen: und der
bittende Theil wuͤrde durch ſeine unartige Bitte
den gebetenen Freund thaͤtlich erinnern, daß er
ihm die Bitte abſchlagen, und eine ſo eigennuͤ-
tzige Freundſchaft verachten und aufheben ſolte,
eine Freundſchaft, die ohnehin auf der einen Sei-
te nur in Worten und Schein beſtanden haͤtte.
Allein, wer durch ein kleines Uebel ein viel groͤſ-
ſeres Uebel ſeines Freundes abkauffen kan, und
es nicht thun will, der wird in der That des
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 473. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/479>, abgerufen am 25.11.2024.
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