gen mit ihnen sprechen könne. Lassen sie alles vergangene/ das ihnen empfindlich ist/ vergessen seyn/ und dencken sie so we- nig daran/ als wenn es nie geschehen wäre.
Als er merckte, daß ich mich über meine schimpfliche Gefangenschaft beklagen wollte, sag- te er: ihnen kan nichts schimpflich seyn. Jhre Ehre ist allzuwohl bevestiget. - - Jch wollte sie nur gern einmahl sprechen. Jch habe in aller der Zeit nichts gesehen, das nur halb so liebenswürdig ist/ als sie.
Hierauf küssete er meine glüenden Backen noch einmahl. Denn ich war voller Unmuth und Ungeduld, weil ich glaubte, daß dieses in der That ein listiger Kunstgrif wäre. Wie konnte ich einen solchen Besuch mit Danck er- kennen, der weiter nichts als eine niederträchti- ge List war, mich entweder auf den künftigen. Dienstag zu fesseln, oder mich bey allen ohne Entschuldigung zu machen, wenn ich mich nicht fesseln lassen wollte?
O mein listiger Bruder! dieses ist gewiß ei- ne Anstalt von ihm. Der Unwille, den ich hie- bey empfand, brachte mir wider in das Gedächt- niß, wie er vorhin mir zum Trotz so freundlich mit meiner Schwester umgegangen war; und wie ihnen beyden der Unwille aus den Augen leuchtete, so bald sie mich erblickten, und die Worte, Clärchen und Schwester aus Ver- stellung von ihren Lippen fallen liessen.
Konn-
Die Geſchichte
gen mit ihnen ſprechen koͤnne. Laſſen ſie alles vergangene/ das ihnen empfindlich iſt/ vergeſſen ſeyn/ und dencken ſie ſo we- nig daran/ als wenn es nie geſchehen waͤre.
Als er merckte, daß ich mich uͤber meine ſchimpfliche Gefangenſchaft beklagen wollte, ſag- te er: ihnen kan nichts ſchimpflich ſeyn. Jhre Ehre iſt allzuwohl beveſtiget. ‒ ‒ Jch wollte ſie nur gern einmahl ſprechen. Jch habe in aller der Zeit nichts geſehen, das nur halb ſo liebenswuͤrdig iſt/ als ſie.
Hierauf kuͤſſete er meine gluͤenden Backen noch einmahl. Denn ich war voller Unmuth und Ungeduld, weil ich glaubte, daß dieſes in der That ein liſtiger Kunſtgrif waͤre. Wie konnte ich einen ſolchen Beſuch mit Danck er- kennen, der weiter nichts als eine niedertraͤchti- ge Liſt war, mich entweder auf den kuͤnftigen. Dienſtag zu feſſeln, oder mich bey allen ohne Entſchuldigung zu machen, wenn ich mich nicht feſſeln laſſen wollte?
O mein liſtiger Bruder! dieſes iſt gewiß ei- ne Anſtalt von ihm. Der Unwille, den ich hie- bey empfand, brachte mir wider in das Gedaͤcht- niß, wie er vorhin mir zum Trotz ſo freundlich mit meiner Schweſter umgegangen war; und wie ihnen beyden der Unwille aus den Augen leuchtete, ſo bald ſie mich erblickten, und die Worte, Claͤrchen und Schweſter aus Ver- ſtellung von ihren Lippen fallen lieſſen.
Konn-
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Die Geſchichte
gen mit ihnen ſprechen koͤnne. Laſſen ſie
alles vergangene/ das ihnen empfindlich
iſt/ vergeſſen ſeyn/ und dencken ſie ſo we-
nig daran/ als wenn es nie geſchehen
waͤre.
Als er merckte, daß ich mich uͤber meine
ſchimpfliche Gefangenſchaft beklagen wollte, ſag-
te er: ihnen kan nichts ſchimpflich ſeyn.
Jhre Ehre iſt allzuwohl beveſtiget. ‒ ‒
Jch wollte ſie nur gern einmahl ſprechen.
Jch habe in aller der Zeit nichts geſehen,
das nur halb ſo liebenswuͤrdig iſt/ als ſie.
Hierauf kuͤſſete er meine gluͤenden Backen
noch einmahl. Denn ich war voller Unmuth
und Ungeduld, weil ich glaubte, daß dieſes in
der That ein liſtiger Kunſtgrif waͤre. Wie
konnte ich einen ſolchen Beſuch mit Danck er-
kennen, der weiter nichts als eine niedertraͤchti-
ge Liſt war, mich entweder auf den kuͤnftigen.
Dienſtag zu feſſeln, oder mich bey allen ohne
Entſchuldigung zu machen, wenn ich mich nicht
feſſeln laſſen wollte?
O mein liſtiger Bruder! dieſes iſt gewiß ei-
ne Anſtalt von ihm. Der Unwille, den ich hie-
bey empfand, brachte mir wider in das Gedaͤcht-
niß, wie er vorhin mir zum Trotz ſo freundlich
mit meiner Schweſter umgegangen war; und
wie ihnen beyden der Unwille aus den Augen
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 280. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/286>, abgerufen am 22.11.2024.
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