heit, Jhnen etwas zu verweisen, daß ich mich scheuen muß, sie anzunehmen. Denn die Rich- tigkeit meiner eignen Urtheile ist mir zweifel- hafter, als die Urtheile meiner liebsten Freun- din, welche durch ein freymüthiges Bekentniß solcher Fehler, deren ich sie beschuldige, genug- sam anzeiget, daß sie keinen Fehler mit Wissen und Willen begehen werde. Jch fürchte mich deshalb bey nahe, Sie zu fragen, ob Sie nicht zu grausam in Jhrem Betragen gegen einen Mann sind, der Sie so zärtlich liebet, und der ein so braver und ehrlicher Mann ist.
Wenn Sie es nicht wären, so würde ich mich schämen, die wahrhafte Grosmuth bey einer an- dern in mehreren Maaß anzutreffen, aus der es herrühret, daß man die Schläge eines wahren Freundes geduldig leidet. Jch glaube, daß ich mich einer Tadelsucht schuldig gemacht habe, die durch nichts als durch meine verdrießlichen Um- stände entschuldiget werden kan, wenn sie anders nicht für alle Entschuldigung zu groß und zu un- zeitig ist. Jch fürchte mich fast Sie zu bitten, und dennoch bitte ich Sie, Jhrem Geiste den sreyen Lauf zu lassen, wenn er mit Lächeln und dennoch sehr empfindlich anderer Fehler ta- delt. Welche Wunde soll bey dem Eisen zucken, das sich in so behutsamen Händen befindet? Jch fürchte mich, sage ich, Sie zu bitten, daß Sie Jhrem Geiste freyen Lauf lassen mögen: denn ich besorge, daß eben diese Bitte eine ge- genseitige Wirckung bey Jhnen haben wird.
Sie
P 5
der Clariſſa.
heit, Jhnen etwas zu verweiſen, daß ich mich ſcheuen muß, ſie anzunehmen. Denn die Rich- tigkeit meiner eignen Urtheile iſt mir zweifel- hafter, als die Urtheile meiner liebſten Freun- din, welche durch ein freymuͤthiges Bekentniß ſolcher Fehler, deren ich ſie beſchuldige, genug- ſam anzeiget, daß ſie keinen Fehler mit Wiſſen und Willen begehen werde. Jch fuͤrchte mich deshalb bey nahe, Sie zu fragen, ob Sie nicht zu grauſam in Jhrem Betragen gegen einen Mann ſind, der Sie ſo zaͤrtlich liebet, und der ein ſo braver und ehrlicher Mann iſt.
Wenn Sie es nicht waͤren, ſo wuͤrde ich mich ſchaͤmen, die wahrhafte Grosmuth bey einer an- dern in mehreren Maaß anzutreffen, aus der es herruͤhret, daß man die Schlaͤge eines wahren Freundes geduldig leidet. Jch glaube, daß ich mich einer Tadelſucht ſchuldig gemacht habe, die durch nichts als durch meine verdrießlichen Um- ſtaͤnde entſchuldiget werden kan, wenn ſie anders nicht fuͤr alle Entſchuldigung zu groß und zu un- zeitig iſt. Jch fuͤrchte mich faſt Sie zu bitten, und dennoch bitte ich Sie, Jhrem Geiſte den ſreyen Lauf zu laſſen, wenn er mit Laͤcheln und dennoch ſehr empfindlich anderer Fehler ta- delt. Welche Wunde ſoll bey dem Eiſen zucken, das ſich in ſo behutſamen Haͤnden befindet? Jch fuͤrchte mich, ſage ich, Sie zu bitten, daß Sie Jhrem Geiſte freyen Lauf laſſen moͤgen: denn ich beſorge, daß eben dieſe Bitte eine ge- genſeitige Wirckung bey Jhnen haben wird.
Sie
P 5
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0239"n="233"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#g">der Clariſſa</hi>.</hi></fw><lb/>
heit, Jhnen etwas zu verweiſen, daß ich mich<lb/>ſcheuen muß, ſie anzunehmen. Denn die Rich-<lb/>
tigkeit meiner eignen Urtheile iſt mir zweifel-<lb/>
hafter, als die Urtheile meiner liebſten Freun-<lb/>
din, welche durch ein freymuͤthiges Bekentniß<lb/>ſolcher Fehler, deren ich ſie beſchuldige, genug-<lb/>ſam anzeiget, daß ſie keinen Fehler mit Wiſſen<lb/>
und Willen begehen werde. Jch fuͤrchte mich<lb/>
deshalb bey nahe, Sie zu fragen, ob Sie nicht<lb/>
zu grauſam in Jhrem Betragen gegen einen<lb/>
Mann ſind, der Sie ſo zaͤrtlich liebet, und der<lb/>
ein ſo braver und ehrlicher Mann iſt.</p><lb/><p>Wenn Sie es nicht waͤren, ſo wuͤrde ich mich<lb/>ſchaͤmen, die wahrhafte Grosmuth bey einer an-<lb/>
dern in mehreren Maaß anzutreffen, aus der es<lb/>
herruͤhret, daß man die Schlaͤge eines wahren<lb/>
Freundes geduldig leidet. Jch glaube, daß ich<lb/>
mich einer Tadelſucht ſchuldig gemacht habe, die<lb/>
durch nichts als durch meine verdrießlichen Um-<lb/>ſtaͤnde entſchuldiget werden kan, wenn ſie anders<lb/>
nicht fuͤr alle Entſchuldigung zu groß und zu un-<lb/>
zeitig iſt. Jch fuͤrchte mich faſt Sie zu bitten,<lb/>
und dennoch bitte ich Sie, Jhrem Geiſte den<lb/>ſreyen Lauf zu laſſen, wenn er mit Laͤcheln<lb/>
und dennoch ſehr empfindlich anderer Fehler ta-<lb/>
delt. Welche Wunde ſoll bey dem Eiſen zucken,<lb/>
das ſich in ſo behutſamen Haͤnden befindet?<lb/>
Jch fuͤrchte mich, ſage ich, Sie zu bitten, daß<lb/>
Sie Jhrem Geiſte freyen Lauf laſſen moͤgen:<lb/>
denn ich beſorge, daß eben dieſe Bitte eine ge-<lb/>
genſeitige Wirckung bey Jhnen haben wird.<lb/><fwplace="bottom"type="sig">P 5</fw><fwplace="bottom"type="catch">Sie</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[233/0239]
der Clariſſa.
heit, Jhnen etwas zu verweiſen, daß ich mich
ſcheuen muß, ſie anzunehmen. Denn die Rich-
tigkeit meiner eignen Urtheile iſt mir zweifel-
hafter, als die Urtheile meiner liebſten Freun-
din, welche durch ein freymuͤthiges Bekentniß
ſolcher Fehler, deren ich ſie beſchuldige, genug-
ſam anzeiget, daß ſie keinen Fehler mit Wiſſen
und Willen begehen werde. Jch fuͤrchte mich
deshalb bey nahe, Sie zu fragen, ob Sie nicht
zu grauſam in Jhrem Betragen gegen einen
Mann ſind, der Sie ſo zaͤrtlich liebet, und der
ein ſo braver und ehrlicher Mann iſt.
Wenn Sie es nicht waͤren, ſo wuͤrde ich mich
ſchaͤmen, die wahrhafte Grosmuth bey einer an-
dern in mehreren Maaß anzutreffen, aus der es
herruͤhret, daß man die Schlaͤge eines wahren
Freundes geduldig leidet. Jch glaube, daß ich
mich einer Tadelſucht ſchuldig gemacht habe, die
durch nichts als durch meine verdrießlichen Um-
ſtaͤnde entſchuldiget werden kan, wenn ſie anders
nicht fuͤr alle Entſchuldigung zu groß und zu un-
zeitig iſt. Jch fuͤrchte mich faſt Sie zu bitten,
und dennoch bitte ich Sie, Jhrem Geiſte den
ſreyen Lauf zu laſſen, wenn er mit Laͤcheln
und dennoch ſehr empfindlich anderer Fehler ta-
delt. Welche Wunde ſoll bey dem Eiſen zucken,
das ſich in ſo behutſamen Haͤnden befindet?
Jch fuͤrchte mich, ſage ich, Sie zu bitten, daß
Sie Jhrem Geiſte freyen Lauf laſſen moͤgen:
denn ich beſorge, daß eben dieſe Bitte eine ge-
genſeitige Wirckung bey Jhnen haben wird.
Sie
P 5
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/239>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.