Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748.

Bild:
<< vorherige Seite

der Clarissa.
zu fürchten, wie es sonst bey den Pocken zu ge-
hen pflegt. Ein paar mahl nahm sie sich vor,
ihr Testament zu verbrennen, um besser zu wer-
den.

Sie ließ meiner Mutter sagen, daß der Do-
ctor sie aufgegeben hätte; allein sie könnte nicht
sterben, ohne sie zu sehen. Jch bat meine Mut-
ter, sie möchte nicht hinreisen, ihr gute Besserung
zu wünschen. Allein sie wollte sie schlechterdings
besuchen, und verlangte sogar zu meinem grös-
sern Verdruß, daß ich mit ihr reisen solte. Sie
gab mir nur eine Stunde Zeit zum Einpacken:
Hätte ich mehr Zeit gehabt, es ihr vorzustellen,
so wäre ich gewiß zu Hause geblieben. Allein,
sie sagte mir nichts davon, als da sie des Mor-
gens sehr früh aufftand; und sie hatte vor, des
Abends wieder zu Hause zu seyn. Jch mußte
mich also nothwendig in Bereitschaft setzen, ih-
rem Befehl zu gehorchen. Vergeblich stellete
ich ihr vor, daß dieser Befehl sich zu einer so ernst-
haften Gelegenheit nicht schickte. Es hieß, sie
hätte kein Mädchen in der Welt gesehen, daß
so von dem Geiste des Widerspruchs besessen wä-
re. Jch wäre immer so weise, daß ich sie für
eine Thörin halten wollte. Allein ich sollte ihr
diesesmahl folgen, es möchte sich schicken oder
nicht.

Jch kan nicht begreiffen, wie meine Mutter
auf diesen Einfall kömmt, wenn nicht folgendes
die wahre Ursache ist. Sie wollte Herrn Hick-
manns
Anerbieten, sie zu begleiten, annehmen:

und
Zweyter Theil. O

der Clariſſa.
zu fuͤrchten, wie es ſonſt bey den Pocken zu ge-
hen pflegt. Ein paar mahl nahm ſie ſich vor,
ihr Teſtament zu verbrennen, um beſſer zu wer-
den.

Sie ließ meiner Mutter ſagen, daß der Do-
ctor ſie aufgegeben haͤtte; allein ſie koͤnnte nicht
ſterben, ohne ſie zu ſehen. Jch bat meine Mut-
ter, ſie moͤchte nicht hinreiſen, ihr gute Beſſerung
zu wuͤnſchen. Allein ſie wollte ſie ſchlechterdings
beſuchen, und verlangte ſogar zu meinem groͤſ-
ſern Verdruß, daß ich mit ihr reiſen ſolte. Sie
gab mir nur eine Stunde Zeit zum Einpacken:
Haͤtte ich mehr Zeit gehabt, es ihr vorzuſtellen,
ſo waͤre ich gewiß zu Hauſe geblieben. Allein,
ſie ſagte mir nichts davon, als da ſie des Mor-
gens ſehr fruͤh aufftand; und ſie hatte vor, des
Abends wieder zu Hauſe zu ſeyn. Jch mußte
mich alſo nothwendig in Bereitſchaft ſetzen, ih-
rem Befehl zu gehorchen. Vergeblich ſtellete
ich ihr vor, daß dieſer Befehl ſich zu einer ſo ernſt-
haften Gelegenheit nicht ſchickte. Es hieß, ſie
haͤtte kein Maͤdchen in der Welt geſehen, daß
ſo von dem Geiſte des Widerſpruchs beſeſſen waͤ-
re. Jch waͤre immer ſo weiſe, daß ich ſie fuͤr
eine Thoͤrin halten wollte. Allein ich ſollte ihr
dieſesmahl folgen, es moͤchte ſich ſchicken oder
nicht.

Jch kan nicht begreiffen, wie meine Mutter
auf dieſen Einfall koͤmmt, wenn nicht folgendes
die wahre Urſache iſt. Sie wollte Herrn Hick-
manns
Anerbieten, ſie zu begleiten, annehmen:

und
Zweyter Theil. O
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0215" n="209"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">der Clari&#x017F;&#x017F;a</hi>.</hi></fw><lb/>
zu fu&#x0364;rchten, wie es &#x017F;on&#x017F;t bey den Pocken zu ge-<lb/>
hen pflegt. Ein paar mahl nahm &#x017F;ie &#x017F;ich vor,<lb/>
ihr Te&#x017F;tament zu verbrennen, um be&#x017F;&#x017F;er zu wer-<lb/>
den.</p><lb/>
          <p>Sie ließ meiner Mutter &#x017F;agen, daß der Do-<lb/>
ctor &#x017F;ie aufgegeben ha&#x0364;tte; allein &#x017F;ie ko&#x0364;nnte nicht<lb/>
&#x017F;terben, ohne &#x017F;ie zu &#x017F;ehen. Jch bat meine Mut-<lb/>
ter, &#x017F;ie mo&#x0364;chte nicht hinrei&#x017F;en, ihr gute Be&#x017F;&#x017F;erung<lb/>
zu wu&#x0364;n&#x017F;chen. Allein &#x017F;ie wollte &#x017F;ie &#x017F;chlechterdings<lb/>
be&#x017F;uchen, und verlangte &#x017F;ogar zu meinem gro&#x0364;&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ern Verdruß, daß ich mit ihr rei&#x017F;en &#x017F;olte. Sie<lb/>
gab mir nur eine Stunde Zeit zum Einpacken:<lb/>
Ha&#x0364;tte ich mehr Zeit gehabt, es ihr vorzu&#x017F;tellen,<lb/>
&#x017F;o wa&#x0364;re ich gewiß zu Hau&#x017F;e geblieben. Allein,<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;agte mir nichts davon, als da &#x017F;ie des Mor-<lb/>
gens &#x017F;ehr fru&#x0364;h aufftand; und &#x017F;ie hatte vor, des<lb/>
Abends wieder zu Hau&#x017F;e zu &#x017F;eyn. Jch mußte<lb/>
mich al&#x017F;o nothwendig in Bereit&#x017F;chaft &#x017F;etzen, ih-<lb/>
rem Befehl zu gehorchen. Vergeblich &#x017F;tellete<lb/>
ich ihr vor, daß die&#x017F;er Befehl &#x017F;ich zu einer &#x017F;o ern&#x017F;t-<lb/>
haften Gelegenheit nicht &#x017F;chickte. Es hieß, &#x017F;ie<lb/>
ha&#x0364;tte kein Ma&#x0364;dchen in der Welt ge&#x017F;ehen, daß<lb/>
&#x017F;o von dem Gei&#x017F;te des Wider&#x017F;pruchs be&#x017F;e&#x017F;&#x017F;en wa&#x0364;-<lb/>
re. Jch wa&#x0364;re immer &#x017F;o wei&#x017F;e, daß ich &#x017F;ie fu&#x0364;r<lb/>
eine Tho&#x0364;rin halten wollte. Allein ich &#x017F;ollte ihr<lb/>
die&#x017F;esmahl folgen, es mo&#x0364;chte &#x017F;ich &#x017F;chicken oder<lb/>
nicht.</p><lb/>
          <p>Jch kan nicht begreiffen, wie meine Mutter<lb/>
auf die&#x017F;en Einfall ko&#x0364;mmt, wenn nicht folgendes<lb/>
die wahre Ur&#x017F;ache i&#x017F;t. Sie wollte Herrn <hi rendition="#fr">Hick-<lb/>
manns</hi> Anerbieten, &#x017F;ie zu begleiten, annehmen:<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#fr">Zweyter Theil.</hi> O</fw><fw place="bottom" type="catch">und</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[209/0215] der Clariſſa. zu fuͤrchten, wie es ſonſt bey den Pocken zu ge- hen pflegt. Ein paar mahl nahm ſie ſich vor, ihr Teſtament zu verbrennen, um beſſer zu wer- den. Sie ließ meiner Mutter ſagen, daß der Do- ctor ſie aufgegeben haͤtte; allein ſie koͤnnte nicht ſterben, ohne ſie zu ſehen. Jch bat meine Mut- ter, ſie moͤchte nicht hinreiſen, ihr gute Beſſerung zu wuͤnſchen. Allein ſie wollte ſie ſchlechterdings beſuchen, und verlangte ſogar zu meinem groͤſ- ſern Verdruß, daß ich mit ihr reiſen ſolte. Sie gab mir nur eine Stunde Zeit zum Einpacken: Haͤtte ich mehr Zeit gehabt, es ihr vorzuſtellen, ſo waͤre ich gewiß zu Hauſe geblieben. Allein, ſie ſagte mir nichts davon, als da ſie des Mor- gens ſehr fruͤh aufftand; und ſie hatte vor, des Abends wieder zu Hauſe zu ſeyn. Jch mußte mich alſo nothwendig in Bereitſchaft ſetzen, ih- rem Befehl zu gehorchen. Vergeblich ſtellete ich ihr vor, daß dieſer Befehl ſich zu einer ſo ernſt- haften Gelegenheit nicht ſchickte. Es hieß, ſie haͤtte kein Maͤdchen in der Welt geſehen, daß ſo von dem Geiſte des Widerſpruchs beſeſſen waͤ- re. Jch waͤre immer ſo weiſe, daß ich ſie fuͤr eine Thoͤrin halten wollte. Allein ich ſollte ihr dieſesmahl folgen, es moͤchte ſich ſchicken oder nicht. Jch kan nicht begreiffen, wie meine Mutter auf dieſen Einfall koͤmmt, wenn nicht folgendes die wahre Urſache iſt. Sie wollte Herrn Hick- manns Anerbieten, ſie zu begleiten, annehmen: und Zweyter Theil. O

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/215
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/215>, abgerufen am 04.05.2024.