"Was ist nun aus mir geworden? Wie soll "ich es ausstehen, daß ich mich in meiner Hoff- "nung betrogen sehe: Es ist nicht einmahl eine "neue Hinderniß vorhanden! Mit dem einen "Knie knie ich, um auf dem andern zu schreiben. "Meine Füsse sind gantz starr, weil ich um Mit- "ternacht durch den stärcksten Thau, der jemahls "gefallen ist, habe gehen müssen: die Perücke "und Wäsche drüppelt von geschmoltzenem Rohr- "Reiff. Der Tag will eben anbrechen, und die "Sonne ist noch nicht aufgegangen. O möch- "te sie niemahls wider aufgehen, wenn sie einem "Gemüth, das noch mit finsterer Nacht umgeben "bleibt, kein Licht bringen kan! So groß die "Freude war, die Sie mir verursacht hatten, "ewig liebenswürdige Zusagerin, eben so groß ist "jetzt mein Kummer."
"Lassen sich die Sachen zwischen Jhnen "und den Jhrigen zu einer Entscheidung "an? Jst nicht dis eine neue Ursache für mich, "die versprochene Zusammenkunft zu wünschen "und zu erwarten?"
"Kan ich Jhnen alles schreiben/ was "ich sagen wollte? Es ist ohnmöglich. Nicht "den hundertsten Theil von dem, was ich in mei- "nem Hertzen habe, oder befürchte, kan ich Jh- "nen schreiben.
O das
Die Geſchichte
„An Fraͤulein Clariſſa Harlowe.„ „Lieber Gott!„
„Was iſt nun aus mir geworden? Wie ſoll „ich es ausſtehen, daß ich mich in meiner Hoff- „nung betrogen ſehe: Es iſt nicht einmahl eine „neue Hinderniß vorhanden! Mit dem einen „Knie knie ich, um auf dem andern zu ſchreiben. „Meine Fuͤſſe ſind gantz ſtarr, weil ich um Mit- „ternacht durch den ſtaͤrckſten Thau, der jemahls „gefallen iſt, habe gehen muͤſſen: die Peruͤcke „und Waͤſche druͤppelt von geſchmoltzenem Rohr- „Reiff. Der Tag will eben anbrechen, und die „Sonne iſt noch nicht aufgegangen. O moͤch- „te ſie niemahls wider aufgehen, wenn ſie einem „Gemuͤth, das noch mit finſterer Nacht umgeben „bleibt, kein Licht bringen kan! So groß die „Freude war, die Sie mir verurſacht hatten, „ewig liebenswuͤrdige Zuſagerin, eben ſo groß iſt „jetzt mein Kummer.„
„Laſſen ſich die Sachen zwiſchen Jhnen „und den Jhrigen zu einer Entſcheidung „an? Jſt nicht dis eine neue Urſache fuͤr mich, „die verſprochene Zuſammenkunft zu wuͤnſchen „und zu erwarten?„
„Kan ich Jhnen alles ſchreiben/ was „ich ſagen wollte? Es iſt ohnmoͤglich. Nicht „den hundertſten Theil von dem, was ich in mei- „nem Hertzen habe, oder befuͤrchte, kan ich Jh- „nen ſchreiben.
O das
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[200/0206]
Die Geſchichte
„An Fraͤulein Clariſſa Harlowe.„
„Lieber Gott!„
„Was iſt nun aus mir geworden? Wie ſoll
„ich es ausſtehen, daß ich mich in meiner Hoff-
„nung betrogen ſehe: Es iſt nicht einmahl eine
„neue Hinderniß vorhanden! Mit dem einen
„Knie knie ich, um auf dem andern zu ſchreiben.
„Meine Fuͤſſe ſind gantz ſtarr, weil ich um Mit-
„ternacht durch den ſtaͤrckſten Thau, der jemahls
„gefallen iſt, habe gehen muͤſſen: die Peruͤcke
„und Waͤſche druͤppelt von geſchmoltzenem Rohr-
„Reiff. Der Tag will eben anbrechen, und die
„Sonne iſt noch nicht aufgegangen. O moͤch-
„te ſie niemahls wider aufgehen, wenn ſie einem
„Gemuͤth, das noch mit finſterer Nacht umgeben
„bleibt, kein Licht bringen kan! So groß die
„Freude war, die Sie mir verurſacht hatten,
„ewig liebenswuͤrdige Zuſagerin, eben ſo groß iſt
„jetzt mein Kummer.„
„Laſſen ſich die Sachen zwiſchen Jhnen
„und den Jhrigen zu einer Entſcheidung
„an? Jſt nicht dis eine neue Urſache fuͤr mich,
„die verſprochene Zuſammenkunft zu wuͤnſchen
„und zu erwarten?„
„Kan ich Jhnen alles ſchreiben/ was
„ich ſagen wollte? Es iſt ohnmoͤglich. Nicht
„den hundertſten Theil von dem, was ich in mei-
„nem Hertzen habe, oder befuͤrchte, kan ich Jh-
„nen ſchreiben.
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/206>, abgerufen am 16.02.2025.
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