Es kommt mir kein Schlaaf in die Augen, und ob es gleich jetzt Mitternacht ist, so will ich doch den Brieff fortsetzen, den ich so un- vermuthet abbrechen muste, um den Befehl, den Sie nebst den Fräuleins Lloyd Campion und Biddulph mir gegeben haben, so gut zu erfül- len, als es meine Zerstreuung zuläßt.
Um die schwere Beschuldigung zu widerlegen, daß ich gegen eine so werthe Freundin versteckt seyn soll bekenne ich, was ich schon mehr als einmahl bekant habe, daß meine verworrene Umstände wol verursachen können, daß mir Herr Lovelace er- träglich vorkommt: alleine keine andere als die ge- meldete Ursache liegt zum Grunde. Hätten ihm die Meinigen einen Mann entgegen gesetzt, der Verstand, Tugend, und ein edles Hertz hätte, der Ehre bey seinem Vermögen gehabt hätte, und so viel Zärtlichkeit und Mitleyden mit der Noth an- derer, daß ich hätte hoffen können, meine Gefäl- ligkeiten mit Danckbarkeit belohnt zu sehen: hätten sie, sage ich ihm einen solchen Mann mit eben dem Ernst als Solmesen entgegen gesetzt: so würden sie, (wo ich mich kenne) jetzt nicht Ursa- che haben, sich über meinen Eigensinn zu beschwe- ren, das äusserliche Ansehen des Mannes möchte auch noch so schlecht gewesen seyn. Denn ich glaube, daß ein Frauenzimmer auf das Hertz sei- nes Freyers sehen müsse, weil ihr dieses allein ge- gründete Hoffnung geben kann, daß sie in allen Umständen vergnügt mit ihm leben werde.
Jch
Die Geſchichte
Es kommt mir kein Schlaaf in die Augen, und ob es gleich jetzt Mitternacht iſt, ſo will ich doch den Brieff fortſetzen, den ich ſo un- vermuthet abbrechen muſte, um den Befehl, den Sie nebſt den Fraͤuleins Lloyd Campion und Biddulph mir gegeben haben, ſo gut zu erfuͤl- len, als es meine Zerſtreuung zulaͤßt.
Um die ſchwere Beſchuldigung zu widerlegen, daß ich gegen eine ſo werthe Freundin verſteckt ſeyn ſoll bekenne ich, was ich ſchon mehr als einmahl bekant habe, daß meine verworrene Umſtaͤnde wol verurſachen koͤnnen, daß mir Herr Lovelace er- traͤglich vorkommt: alleine keine andere als die ge- meldete Urſache liegt zum Grunde. Haͤtten ihm die Meinigen einen Mann entgegen geſetzt, der Verſtand, Tugend, und ein edles Hertz haͤtte, der Ehre bey ſeinem Vermoͤgen gehabt haͤtte, und ſo viel Zaͤrtlichkeit und Mitleyden mit der Noth an- derer, daß ich haͤtte hoffen koͤnnen, meine Gefaͤl- ligkeiten mit Danckbarkeit belohnt zu ſehen: haͤtten ſie, ſage ich ihm einen ſolchen Mann mit eben dem Ernſt als Solmeſen entgegen geſetzt: ſo wuͤrden ſie, (wo ich mich kenne) jetzt nicht Urſa- che haben, ſich uͤber meinen Eigenſinn zu beſchwe- ren, das aͤuſſerliche Anſehen des Mannes moͤchte auch noch ſo ſchlecht geweſen ſeyn. Denn ich glaube, daß ein Frauenzimmer auf das Hertz ſei- nes Freyers ſehen muͤſſe, weil ihr dieſes allein ge- gruͤndete Hoffnung geben kann, daß ſie in allen Umſtaͤnden vergnuͤgt mit ihm leben werde.
Jch
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Die Geſchichte
Es kommt mir kein Schlaaf in die Augen,
und ob es gleich jetzt Mitternacht iſt, ſo
will ich doch den Brieff fortſetzen, den ich ſo un-
vermuthet abbrechen muſte, um den Befehl, den
Sie nebſt den Fraͤuleins Lloyd Campion und
Biddulph mir gegeben haben, ſo gut zu erfuͤl-
len, als es meine Zerſtreuung zulaͤßt.
Um die ſchwere Beſchuldigung zu widerlegen,
daß ich gegen eine ſo werthe Freundin verſteckt ſeyn
ſoll bekenne ich, was ich ſchon mehr als einmahl
bekant habe, daß meine verworrene Umſtaͤnde wol
verurſachen koͤnnen, daß mir Herr Lovelace er-
traͤglich vorkommt: alleine keine andere als die ge-
meldete Urſache liegt zum Grunde. Haͤtten ihm
die Meinigen einen Mann entgegen geſetzt, der
Verſtand, Tugend, und ein edles Hertz haͤtte, der
Ehre bey ſeinem Vermoͤgen gehabt haͤtte, und ſo
viel Zaͤrtlichkeit und Mitleyden mit der Noth an-
derer, daß ich haͤtte hoffen koͤnnen, meine Gefaͤl-
ligkeiten mit Danckbarkeit belohnt zu ſehen:
haͤtten ſie, ſage ich ihm einen ſolchen Mann mit
eben dem Ernſt als Solmeſen entgegen geſetzt:
ſo wuͤrden ſie, (wo ich mich kenne) jetzt nicht Urſa-
che haben, ſich uͤber meinen Eigenſinn zu beſchwe-
ren, das aͤuſſerliche Anſehen des Mannes moͤchte
auch noch ſo ſchlecht geweſen ſeyn. Denn ich
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 446. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/466>, abgerufen am 27.11.2024.
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