Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748.

Bild:
<< vorherige Seite

der Clarissa.
Bier-Schencke, die die Leute ein Wirths-Haus
nennen, antreffen. Das Zeichen ist zum weissen
Hirsch. Dieser Hirsch ist sehr verwundet, doch
nur durch das Wetter. Es liegt in einem arm-
seeligen Dorfe eine gute Meile von Harlowe-
Burg.
Jedermann kennet Harlowe-Burg:
denn es ist seit kurtzer Zeit, so wie Versailles,
beynahe aus einem Mist-Hauffen entstanden,
und wer ein wenig bey Jahren ist, kann sich des
vorigen Zustandes noch erinnern. Jnsonderheit
pflegen es alle Nothdürftige zu kennen; doch nur
seit einigen Jahren, seitdem sich ein gewisser En-
gel unter den Söhnen und Töchtern der Men-
schen hat blicken lassen.

Die Leute in dem weissen Hirsch sind arm, aber
ehrlich. Jch habe es ihnen in den Kopf gesetzt,
daß ich von grossem Stande bin, und mich ver-
kleidet habe: nun läßt sich ihre Ehrfurcht und
Demuth gar nicht einschräncken. Es ist eine klei-
ne freundliche Tochter im Hause, die vor sechs Ta-
gen siebenzehn Jahr alt ward: ich nenne sie nur
mein Rosen-Knöspchen. Sie hat keine Mut-
teram Leben: Die Gros-Mutter, eine reinliche
alte Frau, so gut als je eine auf dem Lande gewe-
sen ist, hat mich gebeten Mitleyden mit dem armen
Mädchen zu haben, und es nicht zu verführen.
Sie hat mich auf der rechten Seite angegriffen.
Manches kleinen schelmischen Mädchens würde
ich geschont haben, wenn mein Vermögen es zu
verführen erkannt, und ich früh genug um Barm-
hertzigkeit gebeten wäre. Mein Wahlspruch soll

immer
Erster Theil. B b

der Clariſſa.
Bier-Schencke, die die Leute ein Wirths-Haus
nennen, antreffen. Das Zeichen iſt zum weiſſen
Hirſch. Dieſer Hirſch iſt ſehr verwundet, doch
nur durch das Wetter. Es liegt in einem arm-
ſeeligen Dorfe eine gute Meile von Harlowe-
Burg.
Jedermann kennet Harlowe-Burg:
denn es iſt ſeit kurtzer Zeit, ſo wie Verſailles,
beynahe aus einem Miſt-Hauffen entſtanden,
und wer ein wenig bey Jahren iſt, kann ſich des
vorigen Zuſtandes noch erinnern. Jnſonderheit
pflegen es alle Nothduͤrftige zu kennen; doch nur
ſeit einigen Jahren, ſeitdem ſich ein gewiſſer En-
gel unter den Soͤhnen und Toͤchtern der Men-
ſchen hat blicken laſſen.

Die Leute in dem weiſſen Hirſch ſind arm, aber
ehrlich. Jch habe es ihnen in den Kopf geſetzt,
daß ich von groſſem Stande bin, und mich ver-
kleidet habe: nun laͤßt ſich ihre Ehrfurcht und
Demuth gar nicht einſchraͤncken. Es iſt eine klei-
ne freundliche Tochter im Hauſe, die vor ſechs Ta-
gen ſiebenzehn Jahr alt ward: ich nenne ſie nur
mein Roſen-Knoͤſpchen. Sie hat keine Mut-
teram Leben: Die Gros-Mutter, eine reinliche
alte Frau, ſo gut als je eine auf dem Lande gewe-
ſen iſt, hat mich gebeten Mitleyden mit dem armen
Maͤdchen zu haben, und es nicht zu verfuͤhren.
Sie hat mich auf der rechten Seite angegriffen.
Manches kleinen ſchelmiſchen Maͤdchens wuͤrde
ich geſchont haben, wenn mein Vermoͤgen es zu
verfuͤhren erkannt, und ich fruͤh genug um Barm-
hertzigkeit gebeten waͤre. Mein Wahlſpruch ſoll

immer
Erſter Theil. B b
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="2">
        <p><pb facs="#f0405" n="385"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">der Clari&#x017F;&#x017F;a.</hi></hi></fw><lb/>
Bier-Schencke, die die Leute ein Wirths-Haus<lb/>
nennen, antreffen. Das Zeichen i&#x017F;t zum wei&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Hir&#x017F;ch. Die&#x017F;er Hir&#x017F;ch i&#x017F;t &#x017F;ehr verwundet, doch<lb/>
nur durch das Wetter. Es liegt in einem arm-<lb/>
&#x017F;eeligen Dorfe eine gute Meile von <hi rendition="#fr">Harlowe-<lb/>
Burg.</hi> Jedermann kennet <hi rendition="#fr">Harlowe-Burg:</hi><lb/>
denn es i&#x017F;t &#x017F;eit kurtzer Zeit, &#x017F;o wie <hi rendition="#fr">Ver&#x017F;ailles,</hi><lb/>
beynahe aus einem Mi&#x017F;t-Hauffen ent&#x017F;tanden,<lb/>
und wer ein wenig bey Jahren i&#x017F;t, kann &#x017F;ich des<lb/>
vorigen Zu&#x017F;tandes noch erinnern. Jn&#x017F;onderheit<lb/>
pflegen es alle Nothdu&#x0364;rftige zu kennen; doch nur<lb/>
&#x017F;eit einigen Jahren, &#x017F;eitdem &#x017F;ich ein gewi&#x017F;&#x017F;er En-<lb/>
gel unter den So&#x0364;hnen und To&#x0364;chtern der Men-<lb/>
&#x017F;chen hat blicken la&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
        <p>Die Leute in dem wei&#x017F;&#x017F;en Hir&#x017F;ch &#x017F;ind arm, aber<lb/>
ehrlich. Jch habe es ihnen in den Kopf ge&#x017F;etzt,<lb/>
daß ich von gro&#x017F;&#x017F;em Stande bin, und mich ver-<lb/>
kleidet habe: nun la&#x0364;ßt &#x017F;ich ihre Ehrfurcht und<lb/>
Demuth gar nicht ein&#x017F;chra&#x0364;ncken. Es i&#x017F;t eine klei-<lb/>
ne freundliche Tochter im Hau&#x017F;e, die vor &#x017F;echs Ta-<lb/>
gen &#x017F;iebenzehn Jahr alt ward: ich nenne &#x017F;ie nur<lb/><hi rendition="#fr">mein Ro&#x017F;en-Kno&#x0364;&#x017F;pchen.</hi> Sie hat keine Mut-<lb/>
teram Leben: Die Gros-Mutter, eine reinliche<lb/>
alte Frau, &#x017F;o gut als je eine auf dem Lande gewe-<lb/>
&#x017F;en i&#x017F;t, hat mich gebeten Mitleyden mit dem armen<lb/>
Ma&#x0364;dchen zu haben, und es nicht zu verfu&#x0364;hren.<lb/>
Sie hat mich auf der rechten Seite angegriffen.<lb/>
Manches kleinen &#x017F;chelmi&#x017F;chen Ma&#x0364;dchens wu&#x0364;rde<lb/>
ich ge&#x017F;chont haben, wenn mein Vermo&#x0364;gen es zu<lb/>
verfu&#x0364;hren erkannt, und ich fru&#x0364;h genug um Barm-<lb/>
hertzigkeit gebeten wa&#x0364;re. Mein Wahl&#x017F;pruch &#x017F;oll<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#fr">Er&#x017F;ter Theil.</hi> B b</fw><fw place="bottom" type="catch">immer</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[385/0405] der Clariſſa. Bier-Schencke, die die Leute ein Wirths-Haus nennen, antreffen. Das Zeichen iſt zum weiſſen Hirſch. Dieſer Hirſch iſt ſehr verwundet, doch nur durch das Wetter. Es liegt in einem arm- ſeeligen Dorfe eine gute Meile von Harlowe- Burg. Jedermann kennet Harlowe-Burg: denn es iſt ſeit kurtzer Zeit, ſo wie Verſailles, beynahe aus einem Miſt-Hauffen entſtanden, und wer ein wenig bey Jahren iſt, kann ſich des vorigen Zuſtandes noch erinnern. Jnſonderheit pflegen es alle Nothduͤrftige zu kennen; doch nur ſeit einigen Jahren, ſeitdem ſich ein gewiſſer En- gel unter den Soͤhnen und Toͤchtern der Men- ſchen hat blicken laſſen. Die Leute in dem weiſſen Hirſch ſind arm, aber ehrlich. Jch habe es ihnen in den Kopf geſetzt, daß ich von groſſem Stande bin, und mich ver- kleidet habe: nun laͤßt ſich ihre Ehrfurcht und Demuth gar nicht einſchraͤncken. Es iſt eine klei- ne freundliche Tochter im Hauſe, die vor ſechs Ta- gen ſiebenzehn Jahr alt ward: ich nenne ſie nur mein Roſen-Knoͤſpchen. Sie hat keine Mut- teram Leben: Die Gros-Mutter, eine reinliche alte Frau, ſo gut als je eine auf dem Lande gewe- ſen iſt, hat mich gebeten Mitleyden mit dem armen Maͤdchen zu haben, und es nicht zu verfuͤhren. Sie hat mich auf der rechten Seite angegriffen. Manches kleinen ſchelmiſchen Maͤdchens wuͤrde ich geſchont haben, wenn mein Vermoͤgen es zu verfuͤhren erkannt, und ich fruͤh genug um Barm- hertzigkeit gebeten waͤre. Mein Wahlſpruch ſoll immer Erſter Theil. B b

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/405
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 385. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/405>, abgerufen am 23.11.2024.