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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748.

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Die Geschichte
solte bedencken, daß wenn ich mich dieses Guts
durch meinen Ungehorsam verlustig machte, ich
zugleich das Hertz meines Vaters völlig verlieren
würde. Jch solte überlegen, in was für äusserste
Armuth ich alsdenn gerathen würde, daß ich weder
mir helffen noch an andern Wercke der Liebe üben
könte, die ich mir so oft vorgenommen hätte.

Jch sagte: ich würde mich nach meinen Um-
ständen richten müssen. Nur von dem werde viel
gefodert, dem viel gegeben sey. Jch müste GOtt
danckbar seyn, für das was er mir gegeben hätte:
und ich wünschte ihr und der Frau Norton See-
gen dafür, daß sie mich so erzogen hätten, daß ich
mit wenigem vergnügt seyn könte: ich wollte wol
sagen, mit noch viel wenigerm, als meines Va-
ters Gütigkeit mir jährlich ausgesetzt hatte. Jch
dächte oft an jenen alten Römer, und an sein Lin-
sen-Gerichte.

Meine Mutter antwortete: was für ein ver-
kehrter Sinn ist das? Wenn du deine Hoffnung
auf einen von deinen beyden Onkels setzest, so wird
dich die Hoffnung betriegen. Sie werden gantz
von dir ablassen, und nichts mehr mit dir zu thun
haben wollen, so bald es dein Vater thut.

Jch sagte; es thäte mir leyd, daß ich zu we-
nig gutes an mir hätte, einen tieffern Eindruck in
ihre Gemüther zu machen, und eine beständigere
Wohlgewogenheit zu verdienen. Jch würde sie
dem ohngeachtet lieben und ehren, so lange ich lebte.

Sie schrieb alles dieses gewissen Vorurtheilen
zu, und schloß daraus, daß ich mich durch je-

mand

Die Geſchichte
ſolte bedencken, daß wenn ich mich dieſes Guts
durch meinen Ungehorſam verluſtig machte, ich
zugleich das Hertz meines Vaters voͤllig verlieren
wuͤrde. Jch ſolte uͤberlegen, in was fuͤr aͤuſſerſte
Armuth ich alsdenn gerathen wuͤrde, daß ich weder
mir helffen noch an andern Wercke der Liebe uͤben
koͤnte, die ich mir ſo oft vorgenommen haͤtte.

Jch ſagte: ich wuͤrde mich nach meinen Um-
ſtaͤnden richten muͤſſen. Nur von dem werde viel
gefodert, dem viel gegeben ſey. Jch muͤſte GOtt
danckbar ſeyn, fuͤr das was er mir gegeben haͤtte:
und ich wuͤnſchte ihr und der Frau Norton See-
gen dafuͤr, daß ſie mich ſo erzogen haͤtten, daß ich
mit wenigem vergnuͤgt ſeyn koͤnte: ich wollte wol
ſagen, mit noch viel wenigerm, als meines Va-
ters Guͤtigkeit mir jaͤhrlich ausgeſetzt hatte. Jch
daͤchte oft an jenen alten Roͤmer, und an ſein Lin-
ſen-Gerichte.

Meine Mutter antwortete: was fuͤr ein ver-
kehrter Sinn iſt das? Wenn du deine Hoffnung
auf einen von deinen beyden Onkels ſetzeſt, ſo wird
dich die Hoffnung betriegen. Sie werden gantz
von dir ablaſſen, und nichts mehr mit dir zu thun
haben wollen, ſo bald es dein Vater thut.

Jch ſagte; es thaͤte mir leyd, daß ich zu we-
nig gutes an mir haͤtte, einen tieffern Eindruck in
ihre Gemuͤther zu machen, und eine beſtaͤndigere
Wohlgewogenheit zu verdienen. Jch wuͤrde ſie
dem ohngeachtet lieben und ehren, ſo lange ich lebte.

Sie ſchrieb alles dieſes gewiſſen Vorurtheilen
zu, und ſchloß daraus, daß ich mich durch je-

mand
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[218/0238] Die Geſchichte ſolte bedencken, daß wenn ich mich dieſes Guts durch meinen Ungehorſam verluſtig machte, ich zugleich das Hertz meines Vaters voͤllig verlieren wuͤrde. Jch ſolte uͤberlegen, in was fuͤr aͤuſſerſte Armuth ich alsdenn gerathen wuͤrde, daß ich weder mir helffen noch an andern Wercke der Liebe uͤben koͤnte, die ich mir ſo oft vorgenommen haͤtte. Jch ſagte: ich wuͤrde mich nach meinen Um- ſtaͤnden richten muͤſſen. Nur von dem werde viel gefodert, dem viel gegeben ſey. Jch muͤſte GOtt danckbar ſeyn, fuͤr das was er mir gegeben haͤtte: und ich wuͤnſchte ihr und der Frau Norton See- gen dafuͤr, daß ſie mich ſo erzogen haͤtten, daß ich mit wenigem vergnuͤgt ſeyn koͤnte: ich wollte wol ſagen, mit noch viel wenigerm, als meines Va- ters Guͤtigkeit mir jaͤhrlich ausgeſetzt hatte. Jch daͤchte oft an jenen alten Roͤmer, und an ſein Lin- ſen-Gerichte. Meine Mutter antwortete: was fuͤr ein ver- kehrter Sinn iſt das? Wenn du deine Hoffnung auf einen von deinen beyden Onkels ſetzeſt, ſo wird dich die Hoffnung betriegen. Sie werden gantz von dir ablaſſen, und nichts mehr mit dir zu thun haben wollen, ſo bald es dein Vater thut. Jch ſagte; es thaͤte mir leyd, daß ich zu we- nig gutes an mir haͤtte, einen tieffern Eindruck in ihre Gemuͤther zu machen, und eine beſtaͤndigere Wohlgewogenheit zu verdienen. Jch wuͤrde ſie dem ohngeachtet lieben und ehren, ſo lange ich lebte. Sie ſchrieb alles dieſes gewiſſen Vorurtheilen zu, und ſchloß daraus, daß ich mich durch je- mand

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 218. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/238>, abgerufen am 22.11.2024.