Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748.

Bild:
<< vorherige Seite

der Clarissa.
Meinung von seiner Tugend; und ich verdencke
es allen den meinigen, meinen Bruder ausgenom-
men, daß sie ihm einen Zutritt in unser Haus ver-
stattet haben, der ihm einige Hoffnung geben konte,
ohne daß wir Recht gehabt hätten, ihm seine Aus-
schweifungen vorzuhalten, weil die Hoffnung
noch sehr entfernt war. Zum andern glaube ich,
daß er ein eingebildeter Mensch ist, und wenigstens
bey sich selbst und heimlich triumphirt, wenn er ein
Hertz besieget zu haben glaubt. Zum dritten
scheint seine Beständigkeit und Ehrerbitung, wel-
che Sie in Jhrem letztern Briefe rühmen, et-
was hochmüthiges an sich zu haben, gerade
als wenn man ihm dafür dancken müßte, daß
er sich um unsre Gunst bewürbe, und als wenn
das Hertz eines Frauenzimmers durch seine Be-
werbung um sie schon zum voraus bezahlt wäre.
So bald er nicht auf seiner Huth ist, scheint er so
zu handeln, als wäre seine Höflichkeit nur etwas
überflüßiges, dazu ihm blos sein Herkommen und
gute Erziehung, und vielleicht die Erziehung mehr
als seine eigene Wahl, verbinden. Es hat recht
das Ansehen, als solte es nur eine herabgelassene
Höflichkeit einer höhern Person seyn. Sie scheint
etwas verborgenes und gezwungenes an sich zu
haben, das man desto sorgfältiger bemercken
muß, weil ihm sonst alles so gut anstehet, und
er in allen Dingen so natürlich und ungezwungen
ist. Endlich so freundlich er gegen fremde Be-
dienten thun kan, daß seine Freundlichkeit so gar
bisweilen eine Vertraulichkeit zu werden scheint,

die
G 5

der Clariſſa.
Meinung von ſeiner Tugend; und ich verdencke
es allen den meinigen, meinen Bruder ausgenom-
men, daß ſie ihm einen Zutritt in unſer Haus ver-
ſtattet haben, der ihm einige Hoffnung geben konte,
ohne daß wir Recht gehabt haͤtten, ihm ſeine Aus-
ſchweifungen vorzuhalten, weil die Hoffnung
noch ſehr entfernt war. Zum andern glaube ich,
daß er ein eingebildeter Menſch iſt, und wenigſtens
bey ſich ſelbſt und heimlich triumphirt, wenn er ein
Hertz beſieget zu haben glaubt. Zum dritten
ſcheint ſeine Beſtaͤndigkeit und Ehrerbitung, wel-
che Sie in Jhrem letztern Briefe ruͤhmen, et-
was hochmuͤthiges an ſich zu haben, gerade
als wenn man ihm dafuͤr dancken muͤßte, daß
er ſich um unſre Gunſt bewuͤrbe, und als wenn
das Hertz eines Frauenzimmers durch ſeine Be-
werbung um ſie ſchon zum voraus bezahlt waͤre.
So bald er nicht auf ſeiner Huth iſt, ſcheint er ſo
zu handeln, als waͤre ſeine Hoͤflichkeit nur etwas
uͤberfluͤßiges, dazu ihm blos ſein Herkommen und
gute Erziehung, und vielleicht die Erziehung mehr
als ſeine eigene Wahl, verbinden. Es hat recht
das Anſehen, als ſolte es nur eine herabgelaſſene
Hoͤflichkeit einer hoͤhern Perſon ſeyn. Sie ſcheint
etwas verborgenes und gezwungenes an ſich zu
haben, das man deſto ſorgfaͤltiger bemercken
muß, weil ihm ſonſt alles ſo gut anſtehet, und
er in allen Dingen ſo natuͤrlich und ungezwungen
iſt. Endlich ſo freundlich er gegen fremde Be-
dienten thun kan, daß ſeine Freundlichkeit ſo gar
bisweilen eine Vertraulichkeit zu werden ſcheint,

die
G 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="2">
        <p><pb facs="#f0125" n="105"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">der Clari&#x017F;&#x017F;a.</hi></hi></fw><lb/>
Meinung von &#x017F;einer Tugend; und ich verdencke<lb/>
es allen den meinigen, meinen Bruder ausgenom-<lb/>
men, daß &#x017F;ie ihm einen Zutritt in un&#x017F;er Haus ver-<lb/>
&#x017F;tattet haben, der ihm einige Hoffnung geben konte,<lb/>
ohne daß <choice><sic>mir</sic><corr>wir</corr></choice> Recht gehabt ha&#x0364;tten, ihm &#x017F;eine Aus-<lb/>
&#x017F;chweifungen vorzuhalten, weil die Hoffnung<lb/>
noch &#x017F;ehr entfernt war. Zum andern glaube ich,<lb/>
daß er ein eingebildeter Men&#x017F;ch i&#x017F;t, und wenig&#x017F;tens<lb/>
bey &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t und heimlich triumphirt, wenn er ein<lb/>
Hertz be&#x017F;ieget zu haben glaubt. Zum dritten<lb/>
&#x017F;cheint &#x017F;eine Be&#x017F;ta&#x0364;ndigkeit und Ehrerbitung, wel-<lb/>
che Sie in Jhrem letztern Briefe ru&#x0364;hmen, et-<lb/>
was hochmu&#x0364;thiges an &#x017F;ich zu haben, gerade<lb/>
als wenn man ihm dafu&#x0364;r dancken mu&#x0364;ßte, daß<lb/>
er &#x017F;ich um un&#x017F;re Gun&#x017F;t bewu&#x0364;rbe, und als wenn<lb/>
das Hertz eines Frauenzimmers durch &#x017F;eine Be-<lb/>
werbung um &#x017F;ie &#x017F;chon zum voraus bezahlt wa&#x0364;re.<lb/>
So bald er nicht auf &#x017F;einer Huth i&#x017F;t, &#x017F;cheint er &#x017F;o<lb/>
zu handeln, als wa&#x0364;re &#x017F;eine Ho&#x0364;flichkeit nur etwas<lb/>
u&#x0364;berflu&#x0364;ßiges, dazu ihm blos &#x017F;ein Herkommen und<lb/>
gute Erziehung, und vielleicht die Erziehung mehr<lb/>
als &#x017F;eine eigene Wahl, verbinden. Es hat recht<lb/>
das An&#x017F;ehen, als &#x017F;olte es nur eine herabgela&#x017F;&#x017F;ene<lb/>
Ho&#x0364;flichkeit einer ho&#x0364;hern Per&#x017F;on &#x017F;eyn. Sie &#x017F;cheint<lb/>
etwas verborgenes und gezwungenes an &#x017F;ich zu<lb/>
haben, das man de&#x017F;to &#x017F;orgfa&#x0364;ltiger bemercken<lb/>
muß, weil ihm &#x017F;on&#x017F;t alles &#x017F;o gut an&#x017F;tehet, und<lb/>
er in allen Dingen &#x017F;o natu&#x0364;rlich und ungezwungen<lb/>
i&#x017F;t. Endlich &#x017F;o freundlich er gegen fremde Be-<lb/>
dienten thun kan, daß &#x017F;eine Freundlichkeit &#x017F;o gar<lb/>
bisweilen eine Vertraulichkeit zu werden &#x017F;cheint,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">G 5</fw><fw place="bottom" type="catch">die</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[105/0125] der Clariſſa. Meinung von ſeiner Tugend; und ich verdencke es allen den meinigen, meinen Bruder ausgenom- men, daß ſie ihm einen Zutritt in unſer Haus ver- ſtattet haben, der ihm einige Hoffnung geben konte, ohne daß wir Recht gehabt haͤtten, ihm ſeine Aus- ſchweifungen vorzuhalten, weil die Hoffnung noch ſehr entfernt war. Zum andern glaube ich, daß er ein eingebildeter Menſch iſt, und wenigſtens bey ſich ſelbſt und heimlich triumphirt, wenn er ein Hertz beſieget zu haben glaubt. Zum dritten ſcheint ſeine Beſtaͤndigkeit und Ehrerbitung, wel- che Sie in Jhrem letztern Briefe ruͤhmen, et- was hochmuͤthiges an ſich zu haben, gerade als wenn man ihm dafuͤr dancken muͤßte, daß er ſich um unſre Gunſt bewuͤrbe, und als wenn das Hertz eines Frauenzimmers durch ſeine Be- werbung um ſie ſchon zum voraus bezahlt waͤre. So bald er nicht auf ſeiner Huth iſt, ſcheint er ſo zu handeln, als waͤre ſeine Hoͤflichkeit nur etwas uͤberfluͤßiges, dazu ihm blos ſein Herkommen und gute Erziehung, und vielleicht die Erziehung mehr als ſeine eigene Wahl, verbinden. Es hat recht das Anſehen, als ſolte es nur eine herabgelaſſene Hoͤflichkeit einer hoͤhern Perſon ſeyn. Sie ſcheint etwas verborgenes und gezwungenes an ſich zu haben, das man deſto ſorgfaͤltiger bemercken muß, weil ihm ſonſt alles ſo gut anſtehet, und er in allen Dingen ſo natuͤrlich und ungezwungen iſt. Endlich ſo freundlich er gegen fremde Be- dienten thun kan, daß ſeine Freundlichkeit ſo gar bisweilen eine Vertraulichkeit zu werden ſcheint, die G 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/125
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/125>, abgerufen am 23.11.2024.