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Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785.

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nehmen, weil, wie er vorgab, es nicht wahrschein-
lich sey, daß der nur eben verwundete Großvogel
sobald zurück zu kehren es wagen sollte. Die schöne
Christine war es zufrieden, und hielt sich fest an den
glücklichen Victorin, in dessen Arme sie, wie in eine
sichre Freystätte, bey jedem geringen Geräusche sich
warf. Sie besah also die mittägige angebaute Ebene.
Da es zur Herbstzeit war, fanden sie außer dem an-
gepflanzten Weinberge, auch noch am Fuße eines
Felsen zwey oder drey große Reben die ursprünglich
auf dem unbesteiglichen Berge gewachsen waren,
und, da Victorin sie vorm Jahre beschnitten und
gewartet hatte, die schönsten Trauben trugen. Er
selbst trug Christinen in seinen liebreichen Armen dahin,
um selbst die ihr gefälligen Trauben abzuschneiden.
Hierauf zeigt' er ihr den Bach und einige wilde Zie-
gen, die zahm gemacht waren, und da sie von lau-
ter aromatischen Kräutern sich nährten, die schönste
Milch gaben.

Er führte sie ferner zu vier Lämmern, welche
von zweyen, die, wie er sagte, der Grosvogel oh-
ne Zweifel trächtig hergebracht, geworfen worden
wären. Auch waren daselbst zwey Kühe und ein
junger Stier, ingleichen ein Pferd und ein Lastthier
zum Feldbau. Er wies ihr denn auch die natürli-
chen Bienenstöcke, welche die Bienen in einem mit
Moos bedeckten Felsen, der gegen den Nordwind
völlig gesichert war, gebaut hatten.

Bey allem nahm er die Miene einer Entdeckung
an', und that, als ob er, wie sie, es zum erstenmale

sähe.



nehmen, weil, wie er vorgab, es nicht wahrſchein-
lich ſey, daß der nur eben verwundete Großvogel
ſobald zuruͤck zu kehren es wagen ſollte. Die ſchoͤne
Chriſtine war es zufrieden, und hielt ſich feſt an den
gluͤcklichen Victorin, in deſſen Arme ſie, wie in eine
ſichre Freyſtaͤtte, bey jedem geringen Geraͤuſche ſich
warf. Sie beſah alſo die mittaͤgige angebaute Ebene.
Da es zur Herbſtzeit war, fanden ſie außer dem an-
gepflanzten Weinberge, auch noch am Fuße eines
Felſen zwey oder drey große Reben die urſpruͤnglich
auf dem unbeſteiglichen Berge gewachſen waren,
und, da Victorin ſie vorm Jahre beſchnitten und
gewartet hatte, die ſchoͤnſten Trauben trugen. Er
ſelbſt trug Chriſtinen in ſeinen liebreichen Armen dahin,
um ſelbſt die ihr gefaͤlligen Trauben abzuſchneiden.
Hierauf zeigt’ er ihr den Bach und einige wilde Zie-
gen, die zahm gemacht waren, und da ſie von lau-
ter aromatiſchen Kraͤutern ſich naͤhrten, die ſchoͤnſte
Milch gaben.

Er fuͤhrte ſie ferner zu vier Laͤmmern, welche
von zweyen, die, wie er ſagte, der Grosvogel oh-
ne Zweifel traͤchtig hergebracht, geworfen worden
waͤren. Auch waren daſelbſt zwey Kuͤhe und ein
junger Stier, ingleichen ein Pferd und ein Laſtthier
zum Feldbau. Er wies ihr denn auch die natuͤrli-
chen Bienenſtoͤcke, welche die Bienen in einem mit
Moos bedeckten Felſen, der gegen den Nordwind
voͤllig geſichert war, gebaut hatten.

Bey allem nahm er die Miene einer Entdeckung
an’, und that, als ob er, wie ſie, es zum erſtenmale

ſaͤhe.
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[62/0070] nehmen, weil, wie er vorgab, es nicht wahrſchein- lich ſey, daß der nur eben verwundete Großvogel ſobald zuruͤck zu kehren es wagen ſollte. Die ſchoͤne Chriſtine war es zufrieden, und hielt ſich feſt an den gluͤcklichen Victorin, in deſſen Arme ſie, wie in eine ſichre Freyſtaͤtte, bey jedem geringen Geraͤuſche ſich warf. Sie beſah alſo die mittaͤgige angebaute Ebene. Da es zur Herbſtzeit war, fanden ſie außer dem an- gepflanzten Weinberge, auch noch am Fuße eines Felſen zwey oder drey große Reben die urſpruͤnglich auf dem unbeſteiglichen Berge gewachſen waren, und, da Victorin ſie vorm Jahre beſchnitten und gewartet hatte, die ſchoͤnſten Trauben trugen. Er ſelbſt trug Chriſtinen in ſeinen liebreichen Armen dahin, um ſelbſt die ihr gefaͤlligen Trauben abzuſchneiden. Hierauf zeigt’ er ihr den Bach und einige wilde Zie- gen, die zahm gemacht waren, und da ſie von lau- ter aromatiſchen Kraͤutern ſich naͤhrten, die ſchoͤnſte Milch gaben. Er fuͤhrte ſie ferner zu vier Laͤmmern, welche von zweyen, die, wie er ſagte, der Grosvogel oh- ne Zweifel traͤchtig hergebracht, geworfen worden waͤren. Auch waren daſelbſt zwey Kuͤhe und ein junger Stier, ingleichen ein Pferd und ein Laſtthier zum Feldbau. Er wies ihr denn auch die natuͤrli- chen Bienenſtoͤcke, welche die Bienen in einem mit Moos bedeckten Felſen, der gegen den Nordwind voͤllig geſichert war, gebaut hatten. Bey allem nahm er die Miene einer Entdeckung an’, und that, als ob er, wie ſie, es zum erſtenmale ſaͤhe.

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Zitationshilfe: Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/70>, abgerufen am 08.05.2024.