Christine war bey dieser Rede, die sie nicht zu unterbrechen vermochte, halb todt. Victorin bat sie aufs angelegentlichste, sich in die Grotte zu begeben, um vor dem Grosvogel, wenn er zurück kommen sollte, desto sicherer zu seyn. Aus Furcht willigte sie ein, und ward auf eine angenehme Art überrascht, als sie eine so angenehme und eine so bequeme Woh- nung allda antraf.
Hier ließ sie Victorin, unter dem Vorwande nachzusehn, ob der Großvogel wieder käme, um ihn anzugreifen, allein; aber seine eigentliche Absicht war, seinen Leuten Anweisung zu geben, und ihnen Verschwiegenheit bey Lebensstrafe anzubefehlen. Er hatte sich das Glück nicht vermuthet, welche seine Entführung begünstigte; allein die Vorstellungen, welche Christine davon machte, änderten seine ge- nommenen Maasregeln. Anstatt ihr seine Leiden- schaft zu gestehen, und die Heftigkeit derselben zur Entschuldigung anzuführen, nahm er die Rolle ih- res Beschützers an, suchte ihr Herz nach und nach zu gewinnen, und theils durch ihre eigne Wahl, theils aus Nothwendigkeit ihr Gemahl zu werden. Besonders prägt' er es der Putzmacherinn, welche die Rolle der Kammerfrau bey Christinen vertreten sollte, recht ein; sie verstand sich darauf; er ver- sprach ihr einen liebenswürdigen Mann, wenn sie ihm treu wäre, und zeigt' ihr auf der andern Seite, wie sie seiner Rache nicht entgehen könnte, wenn sie zur Verrätherinn würde.
Nach
Chriſtine war bey dieſer Rede, die ſie nicht zu unterbrechen vermochte, halb todt. Victorin bat ſie aufs angelegentlichſte, ſich in die Grotte zu begeben, um vor dem Grosvogel, wenn er zuruͤck kommen ſollte, deſto ſicherer zu ſeyn. Aus Furcht willigte ſie ein, und ward auf eine angenehme Art uͤberraſcht, als ſie eine ſo angenehme und eine ſo bequeme Woh- nung allda antraf.
Hier ließ ſie Victorin, unter dem Vorwande nachzuſehn, ob der Großvogel wieder kaͤme, um ihn anzugreifen, allein; aber ſeine eigentliche Abſicht war, ſeinen Leuten Anweiſung zu geben, und ihnen Verſchwiegenheit bey Lebensſtrafe anzubefehlen. Er hatte ſich das Gluͤck nicht vermuthet, welche ſeine Entfuͤhrung beguͤnſtigte; allein die Vorſtellungen, welche Chriſtine davon machte, aͤnderten ſeine ge- nommenen Maasregeln. Anſtatt ihr ſeine Leiden- ſchaft zu geſtehen, und die Heftigkeit derſelben zur Entſchuldigung anzufuͤhren, nahm er die Rolle ih- res Beſchuͤtzers an, ſuchte ihr Herz nach und nach zu gewinnen, und theils durch ihre eigne Wahl, theils aus Nothwendigkeit ihr Gemahl zu werden. Beſonders praͤgt’ er es der Putzmacherinn, welche die Rolle der Kammerfrau bey Chriſtinen vertreten ſollte, recht ein; ſie verſtand ſich darauf; er ver- ſprach ihr einen liebenswuͤrdigen Mann, wenn ſie ihm treu waͤre, und zeigt’ ihr auf der andern Seite, wie ſie ſeiner Rache nicht entgehen koͤnnte, wenn ſie zur Verraͤtherinn wuͤrde.
Nach
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0068"n="60"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p>Chriſtine war bey dieſer Rede, die ſie nicht zu<lb/>
unterbrechen vermochte, halb todt. Victorin bat ſie<lb/>
aufs angelegentlichſte, ſich in die Grotte zu begeben,<lb/>
um vor dem Grosvogel, wenn er zuruͤck kommen<lb/>ſollte, deſto ſicherer zu ſeyn. Aus Furcht willigte<lb/>ſie ein, und ward auf eine angenehme Art uͤberraſcht,<lb/>
als ſie eine ſo angenehme und eine ſo bequeme Woh-<lb/>
nung allda antraf.</p><lb/><p>Hier ließ ſie Victorin, unter dem Vorwande<lb/>
nachzuſehn, ob der Großvogel wieder kaͤme, um ihn<lb/>
anzugreifen, allein; aber ſeine eigentliche Abſicht<lb/>
war, ſeinen Leuten Anweiſung zu geben, und ihnen<lb/>
Verſchwiegenheit bey Lebensſtrafe anzubefehlen. Er<lb/>
hatte ſich das Gluͤck nicht vermuthet, welche ſeine<lb/>
Entfuͤhrung beguͤnſtigte; allein die Vorſtellungen,<lb/>
welche Chriſtine davon machte, aͤnderten ſeine ge-<lb/>
nommenen Maasregeln. Anſtatt ihr ſeine Leiden-<lb/>ſchaft zu geſtehen, und die Heftigkeit derſelben zur<lb/>
Entſchuldigung anzufuͤhren, nahm er die Rolle ih-<lb/>
res Beſchuͤtzers an, ſuchte ihr Herz nach und nach<lb/>
zu gewinnen, und theils durch ihre eigne Wahl,<lb/>
theils aus Nothwendigkeit ihr Gemahl zu werden.<lb/>
Beſonders praͤgt’ er es der Putzmacherinn, welche die<lb/>
Rolle der Kammerfrau bey Chriſtinen vertreten<lb/>ſollte, recht ein; ſie verſtand ſich darauf; er ver-<lb/>ſprach ihr einen liebenswuͤrdigen Mann, wenn ſie<lb/>
ihm treu waͤre, und zeigt’ ihr auf der andern Seite,<lb/>
wie ſie ſeiner Rache nicht entgehen koͤnnte, wenn ſie<lb/>
zur Verraͤtherinn wuͤrde.</p><lb/><fwplace="bottom"type="catch">Nach</fw><lb/></div></body></text></TEI>
[60/0068]
Chriſtine war bey dieſer Rede, die ſie nicht zu
unterbrechen vermochte, halb todt. Victorin bat ſie
aufs angelegentlichſte, ſich in die Grotte zu begeben,
um vor dem Grosvogel, wenn er zuruͤck kommen
ſollte, deſto ſicherer zu ſeyn. Aus Furcht willigte
ſie ein, und ward auf eine angenehme Art uͤberraſcht,
als ſie eine ſo angenehme und eine ſo bequeme Woh-
nung allda antraf.
Hier ließ ſie Victorin, unter dem Vorwande
nachzuſehn, ob der Großvogel wieder kaͤme, um ihn
anzugreifen, allein; aber ſeine eigentliche Abſicht
war, ſeinen Leuten Anweiſung zu geben, und ihnen
Verſchwiegenheit bey Lebensſtrafe anzubefehlen. Er
hatte ſich das Gluͤck nicht vermuthet, welche ſeine
Entfuͤhrung beguͤnſtigte; allein die Vorſtellungen,
welche Chriſtine davon machte, aͤnderten ſeine ge-
nommenen Maasregeln. Anſtatt ihr ſeine Leiden-
ſchaft zu geſtehen, und die Heftigkeit derſelben zur
Entſchuldigung anzufuͤhren, nahm er die Rolle ih-
res Beſchuͤtzers an, ſuchte ihr Herz nach und nach
zu gewinnen, und theils durch ihre eigne Wahl,
theils aus Nothwendigkeit ihr Gemahl zu werden.
Beſonders praͤgt’ er es der Putzmacherinn, welche die
Rolle der Kammerfrau bey Chriſtinen vertreten
ſollte, recht ein; ſie verſtand ſich darauf; er ver-
ſprach ihr einen liebenswuͤrdigen Mann, wenn ſie
ihm treu waͤre, und zeigt’ ihr auf der andern Seite,
wie ſie ſeiner Rache nicht entgehen koͤnnte, wenn ſie
zur Verraͤtherinn wuͤrde.
Nach
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/68>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.