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Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785.

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dazu verdamt wäre, beständig allein auf der Er-
de zu leben, dann würden wir ihn für entschul-
digt halten, wenn er sich auf die Künste der Mah-
lerei und Bildhauerei legte, um in seiner Ein-
samkeit sich durch ein trügendes Bild zu täuschen.
Vielleicht könten wir auch alsdann, wenn wir eu-
re Lebensart führten, und Jahre lang unser Va-
terland verliessen und herumreisten, wünschen, un-
sere geliebten Gegenstände gemahlt zu sehn. Aber
bei unsrer Einrichtung würde die Mahlerei und Bild-
hauerei ein blosses Kinderspiel sein. Wir schätzen
die nöthigen Handwerker weit höher, als diese
unnützen Künste. Doch haben wir etliche Maler,
deren geringe Anzahl darzu gebraucht wird, die
schönen Handlungen unsrer tugendhaftesten Bürger
aufzuzeichnen: und diese Gemälde sind dazu bestimt,
die Wohnungen der Alten, welche sie verrichtet
haben, zu zieren. Was die Musik betrift, so ha-
be ich euch gesagt, daß wir solche haben. Es
ist einer von den Reitzen des Lebens die vervolkom-
ten Töne der menschlichen Stimme zu hören, auch
um die grossen Männer, ihre Vergnügungen
und Liebesgeschichten zu besingen. Die Dicht-
kunst ist die Schwester der Musik, und besteht in
einer weit beseeltern und harmonischern Art, die
Dinge zu sagen: wir brauchen sie aber nur bei
lustigen Gegenständen: bei traurigen Dingen ist sie
lächerlich, schädlich in unterrichtenden Vorwürfen:
mit einem Worte, wir haben nicht mehr, als
drei Arten von poetischen Stücken, dieienigen, wor-
inn die Handlungen der ausgezeichnetesten Männer

als



dazu verdamt waͤre, beſtaͤndig allein auf der Er-
de zu leben, dann wuͤrden wir ihn fuͤr entſchul-
digt halten, wenn er ſich auf die Kuͤnſte der Mah-
lerei und Bildhauerei legte, um in ſeiner Ein-
ſamkeit ſich durch ein truͤgendes Bild zu taͤuſchen.
Vielleicht koͤnten wir auch alsdann, wenn wir eu-
re Lebensart fuͤhrten, und Jahre lang unſer Va-
terland verlieſſen und herumreiſten, wuͤnſchen, un-
ſere geliebten Gegenſtaͤnde gemahlt zu ſehn. Aber
bei unſrer Einrichtung wuͤrde die Mahlerei und Bild-
hauerei ein bloſſes Kinderſpiel ſein. Wir ſchaͤtzen
die noͤthigen Handwerker weit hoͤher, als dieſe
unnuͤtzen Kuͤnſte. Doch haben wir etliche Maler,
deren geringe Anzahl darzu gebraucht wird, die
ſchoͤnen Handlungen unſrer tugendhafteſten Buͤrger
aufzuzeichnen: und dieſe Gemaͤlde ſind dazu beſtimt,
die Wohnungen der Alten, welche ſie verrichtet
haben, zu zieren. Was die Muſik betrift, ſo ha-
be ich euch geſagt, daß wir ſolche haben. Es
iſt einer von den Reitzen des Lebens die vervolkom-
ten Toͤne der menſchlichen Stimme zu hoͤren, auch
um die groſſen Maͤnner, ihre Vergnuͤgungen
und Liebesgeſchichten zu beſingen. Die Dicht-
kunſt iſt die Schweſter der Muſik, und beſteht in
einer weit beſeeltern und harmoniſchern Art, die
Dinge zu ſagen: wir brauchen ſie aber nur bei
luſtigen Gegenſtaͤnden: bei traurigen Dingen iſt ſie
laͤcherlich, ſchaͤdlich in unterrichtenden Vorwuͤrfen:
mit einem Worte, wir haben nicht mehr, als
drei Arten von poetiſchen Stuͤcken, dieienigen, wor-
inn die Handlungen der ausgezeichneteſten Maͤnner

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[335/0343] dazu verdamt waͤre, beſtaͤndig allein auf der Er- de zu leben, dann wuͤrden wir ihn fuͤr entſchul- digt halten, wenn er ſich auf die Kuͤnſte der Mah- lerei und Bildhauerei legte, um in ſeiner Ein- ſamkeit ſich durch ein truͤgendes Bild zu taͤuſchen. Vielleicht koͤnten wir auch alsdann, wenn wir eu- re Lebensart fuͤhrten, und Jahre lang unſer Va- terland verlieſſen und herumreiſten, wuͤnſchen, un- ſere geliebten Gegenſtaͤnde gemahlt zu ſehn. Aber bei unſrer Einrichtung wuͤrde die Mahlerei und Bild- hauerei ein bloſſes Kinderſpiel ſein. Wir ſchaͤtzen die noͤthigen Handwerker weit hoͤher, als dieſe unnuͤtzen Kuͤnſte. Doch haben wir etliche Maler, deren geringe Anzahl darzu gebraucht wird, die ſchoͤnen Handlungen unſrer tugendhafteſten Buͤrger aufzuzeichnen: und dieſe Gemaͤlde ſind dazu beſtimt, die Wohnungen der Alten, welche ſie verrichtet haben, zu zieren. Was die Muſik betrift, ſo ha- be ich euch geſagt, daß wir ſolche haben. Es iſt einer von den Reitzen des Lebens die vervolkom- ten Toͤne der menſchlichen Stimme zu hoͤren, auch um die groſſen Maͤnner, ihre Vergnuͤgungen und Liebesgeſchichten zu beſingen. Die Dicht- kunſt iſt die Schweſter der Muſik, und beſteht in einer weit beſeeltern und harmoniſchern Art, die Dinge zu ſagen: wir brauchen ſie aber nur bei luſtigen Gegenſtaͤnden: bei traurigen Dingen iſt ſie laͤcherlich, ſchaͤdlich in unterrichtenden Vorwuͤrfen: mit einem Worte, wir haben nicht mehr, als drei Arten von poetiſchen Stuͤcken, dieienigen, wor- inn die Handlungen der ausgezeichneteſten Maͤnner als

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Zitationshilfe: Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 335. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/343>, abgerufen am 23.11.2024.