und wollte sich dem Fenster nähern. Aber das Ge- räusch seiner Flügel und seiner Räder war bey nächt- licher Stille so stark, daß er die Hunde des Schlos- ses aufweckte, und sie mit einem fürchterlichen Ge- lerme anfiengen zu bellen.
Jedermann steckte den Kopf zum Fenster hin- aus, und Victorin hatte das Vergnügen seine Chri- stine zu sehen. Auch der alte Herr sah auf und war sehr verwundert einen so großen Vogel zu entdecken, von dessen Gattung er noch nie etwas gehört hatte. Aus Furcht ihn aus dem Gesichte zu verlie- ren, rief er, man sollte ihm seine Flinte mit zwey Läuften bringen. Man hohlte sie, und Victorin ward zu seinem größten Leidwesen genöthigt, sich zu entfernen.
Als er in einer ziemlichen Höhe war, fiel es ihm ein folgenden Gesang anzustimmen, welcher in der harmonischen Luft der obern Regionen sehr ver- ständlich war:
Holde reizende Christine, Die ich anzubeten mich erkühne, Muß ich fort -- ach fort von dir? Bis zur Morgenröthe wollt' ich hier Trunken von Entzücken stehen Und dich schönere Aurore sehen. Ach man droht mir, ich muß fliehn, Doch soll ewig meine Hoffnung glühn.
Das ganze Schloß hörte voll Erstaunen diese Strophen; aber niemand wußte, wo die Stim-
me,
und wollte ſich dem Fenſter naͤhern. Aber das Ge- raͤuſch ſeiner Fluͤgel und ſeiner Raͤder war bey naͤcht- licher Stille ſo ſtark, daß er die Hunde des Schloſ- ſes aufweckte, und ſie mit einem fuͤrchterlichen Ge- lerme anfiengen zu bellen.
Jedermann ſteckte den Kopf zum Fenſter hin- aus, und Victorin hatte das Vergnuͤgen ſeine Chri- ſtine zu ſehen. Auch der alte Herr ſah auf und war ſehr verwundert einen ſo großen Vogel zu entdecken, von deſſen Gattung er noch nie etwas gehoͤrt hatte. Aus Furcht ihn aus dem Geſichte zu verlie- ren, rief er, man ſollte ihm ſeine Flinte mit zwey Laͤuften bringen. Man hohlte ſie, und Victorin ward zu ſeinem groͤßten Leidweſen genoͤthigt, ſich zu entfernen.
Als er in einer ziemlichen Hoͤhe war, fiel es ihm ein folgenden Geſang anzuſtimmen, welcher in der harmoniſchen Luft der obern Regionen ſehr ver- ſtaͤndlich war:
Holde reizende Chriſtine, Die ich anzubeten mich erkuͤhne, Muß ich fort — ach fort von dir? Bis zur Morgenroͤthe wollt’ ich hier Trunken von Entzuͤcken ſtehen Und dich ſchoͤnere Aurore ſehen. Ach man droht mir, ich muß fliehn, Doch ſoll ewig meine Hoffnung gluͤhn.
Das ganze Schloß hoͤrte voll Erſtaunen dieſe Strophen; aber niemand wußte, wo die Stim-
me,
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und wollte ſich dem Fenſter naͤhern. Aber das Ge-
raͤuſch ſeiner Fluͤgel und ſeiner Raͤder war bey naͤcht-
licher Stille ſo ſtark, daß er die Hunde des Schloſ-
ſes aufweckte, und ſie mit einem fuͤrchterlichen Ge-
lerme anfiengen zu bellen.
Jedermann ſteckte den Kopf zum Fenſter hin-
aus, und Victorin hatte das Vergnuͤgen ſeine Chri-
ſtine zu ſehen. Auch der alte Herr ſah auf und war
ſehr verwundert einen ſo großen Vogel zu entdecken,
von deſſen Gattung er noch nie etwas gehoͤrt
hatte. Aus Furcht ihn aus dem Geſichte zu verlie-
ren, rief er, man ſollte ihm ſeine Flinte mit zwey
Laͤuften bringen. Man hohlte ſie, und Victorin
ward zu ſeinem groͤßten Leidweſen genoͤthigt, ſich zu
entfernen.
Als er in einer ziemlichen Hoͤhe war, fiel es
ihm ein folgenden Geſang anzuſtimmen, welcher in
der harmoniſchen Luft der obern Regionen ſehr ver-
ſtaͤndlich war:
Holde reizende Chriſtine,
Die ich anzubeten mich erkuͤhne,
Muß ich fort — ach fort von dir?
Bis zur Morgenroͤthe wollt’ ich hier
Trunken von Entzuͤcken ſtehen
Und dich ſchoͤnere Aurore ſehen.
Ach man droht mir, ich muß fliehn,
Doch ſoll ewig meine Hoffnung gluͤhn.
Das ganze Schloß hoͤrte voll Erſtaunen dieſe
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Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/34>, abgerufen am 16.02.2025.
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