Rousseau und ich hatte Wissenschaft davon. Jch werde lebenslang ein Stillschweigen darüber beob- achten, und diese Begebenheit soll nicht eher, als nach meinem Tode bekannt werden. Erst die Nach- welt mag es erfahren, daß in dem Grabmaal zu Er- menonville nichts befindlich ist.
Jetzt nahm der Südman das Wort und erzählte mir folgende außerordentliche Begebenheiten.
Vor ungefähr siebzig Jahren erfand ein junger Mann aus der Dauphine das Geheimniß zu flie- gen -- zu fliegen wie die Vögel, wenn ich mich deutlich erklären muß. -- Liebe war der Beweg- grund, welche ihn die Sehnsucht zum Fliegen einflößte.
Victorin -- so hieß dieser Dauphinese -- der Sohn eines bloßen Fiscalprocurators, verliebte sich sterblich in die schöne Christine, die Tochter seines Edelmanns.
Christine war die Schönheit selbst, wenigstens die Schönste, welche Victorin je gesehen hatte: Er dachte nur an sie; die Liebe verzehrte ihn; und da keine Hoffnung seine Leidenschaft unterstützte, ward sie für ihn die heftigste Folter. Jmmer suchte der Jüngling nichts als Einsamkeit, und wenn er sich in einer angenehmen ländlichen Gegend, zwischen Hü- geln mit Bäumen umkränzt befand, glaubt' er die Luft der Freyheit und jener ehemaligen sanften Gleich-
heit
Rouſſeau und ich hatte Wiſſenſchaft davon. Jch werde lebenslang ein Stillſchweigen daruͤber beob- achten, und dieſe Begebenheit ſoll nicht eher, als nach meinem Tode bekannt werden. Erſt die Nach- welt mag es erfahren, daß in dem Grabmaal zu Er- menonville nichts befindlich iſt.
Jetzt nahm der Suͤdman das Wort und erzaͤhlte mir folgende außerordentliche Begebenheiten.
Vor ungefaͤhr ſiebzig Jahren erfand ein junger Mann aus der Dauphine das Geheimniß zu flie- gen — zu fliegen wie die Voͤgel, wenn ich mich deutlich erklaͤren muß. — Liebe war der Beweg- grund, welche ihn die Sehnſucht zum Fliegen einfloͤßte.
Victorin — ſo hieß dieſer Dauphineſe — der Sohn eines bloßen Fiſcalprocurators, verliebte ſich ſterblich in die ſchoͤne Chriſtine, die Tochter ſeines Edelmanns.
Chriſtine war die Schoͤnheit ſelbſt, wenigſtens die Schoͤnſte, welche Victorin je geſehen hatte: Er dachte nur an ſie; die Liebe verzehrte ihn; und da keine Hoffnung ſeine Leidenſchaft unterſtuͤtzte, ward ſie fuͤr ihn die heftigſte Folter. Jmmer ſuchte der Juͤngling nichts als Einſamkeit, und wenn er ſich in einer angenehmen laͤndlichen Gegend, zwiſchen Huͤ- geln mit Baͤumen umkraͤnzt befand, glaubt’ er die Luft der Freyheit und jener ehemaligen ſanften Gleich-
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Rouſſeau und ich hatte Wiſſenſchaft davon. Jch
werde lebenslang ein Stillſchweigen daruͤber beob-
achten, und dieſe Begebenheit ſoll nicht eher, als
nach meinem Tode bekannt werden. Erſt die Nach-
welt mag es erfahren, daß in dem Grabmaal zu Er-
menonville nichts befindlich iſt.
Jetzt nahm der Suͤdman das Wort und erzaͤhlte
mir folgende außerordentliche Begebenheiten.
Vor ungefaͤhr ſiebzig Jahren erfand ein junger
Mann aus der Dauphine das Geheimniß zu flie-
gen — zu fliegen wie die Voͤgel, wenn ich mich
deutlich erklaͤren muß. — Liebe war der Beweg-
grund, welche ihn die Sehnſucht zum Fliegen
einfloͤßte.
Victorin — ſo hieß dieſer Dauphineſe —
der Sohn eines bloßen Fiſcalprocurators, verliebte
ſich ſterblich in die ſchoͤne Chriſtine, die Tochter
ſeines Edelmanns.
Chriſtine war die Schoͤnheit ſelbſt, wenigſtens
die Schoͤnſte, welche Victorin je geſehen hatte: Er
dachte nur an ſie; die Liebe verzehrte ihn; und da
keine Hoffnung ſeine Leidenſchaft unterſtuͤtzte, ward
ſie fuͤr ihn die heftigſte Folter. Jmmer ſuchte der
Juͤngling nichts als Einſamkeit, und wenn er ſich in
einer angenehmen laͤndlichen Gegend, zwiſchen Huͤ-
geln mit Baͤumen umkraͤnzt befand, glaubt’ er die
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Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/19>, abgerufen am 16.07.2024.
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