Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785.

Bild:
<< vorherige Seite



zu können. Erst gegen Abend fiel ihm jedoch noch
eine Betrachtung bey: Wie haben dein Vater und
deine Mutter sich geehlicht?"

"Durch Einsegnung eines Priesters, mein lieber
Papa, der noch bey ihnen ist."

"Ah das laß' ich mir gefallen. Jch will meine
Einwilligung gern drein geben, sobald ich sie sehe,
und denn ist alles gut."

"Endlich brach die Nacht an. Victorins und
Christinens Besorgniß für ihren ältesten Sohn bewog sie
alle unter dem Schleyer der Dunkelheit sich nach dem
Schlosse B-m-t zu begeben. Selbst Christine mach-
te, an der Seite ihres Gemahls die Reise mit. Sie
langten um Mitternacht an. Jhr ältester Sohn er-
wartete sie allein in dem Gebüsche. Sobald er das
Geräusch ihrer Flügel hörte, hüpft' er für Freuden,
schwang sich in die Luft und schrie: Glücklicher Aus-
gang -- dies war das verabredete Wort -- Lassen
Sie uns gleich nach dem Schlosse fliegen. Sie tha-
ten es sofort und liessen sich alle fünfe auf dem grossen
Balcon nieder. Dann, nachdem sie ihre Flügel hur-
tig abgelegt, gieng der älteste Sohn hinein sie bey
seinem Großvater anzumelden."

Unmöglich läßt sich die Freude beschreiben, wel-
che der alte Herr beym Anblick seiner Tochter em-
pfand, die er fast eben so munter wieder erhalten, als
er sie verlohren hatte. Er vermochte kein Wort,
sondern drückte sie an seine väterliche Brust. Als-
dann kamen Sophie und der kleine Alexander an die

Reihe.
G 2



zu koͤnnen. Erſt gegen Abend fiel ihm jedoch noch
eine Betrachtung bey: Wie haben dein Vater und
deine Mutter ſich geehlicht?‟

„Durch Einſegnung eines Prieſters, mein lieber
Papa, der noch bey ihnen iſt.‟

„Ah das laß’ ich mir gefallen. Jch will meine
Einwilligung gern drein geben, ſobald ich ſie ſehe,
und denn iſt alles gut.‟

„Endlich brach die Nacht an. Victorins und
Chriſtinens Beſorgniß fuͤr ihren aͤlteſten Sohn bewog ſie
alle unter dem Schleyer der Dunkelheit ſich nach dem
Schloſſe B-m-t zu begeben. Selbſt Chriſtine mach-
te, an der Seite ihres Gemahls die Reiſe mit. Sie
langten um Mitternacht an. Jhr aͤlteſter Sohn er-
wartete ſie allein in dem Gebuͤſche. Sobald er das
Geraͤuſch ihrer Fluͤgel hoͤrte, huͤpft’ er fuͤr Freuden,
ſchwang ſich in die Luft und ſchrie: Gluͤcklicher Aus-
gang — dies war das verabredete Wort — Laſſen
Sie uns gleich nach dem Schloſſe fliegen. Sie tha-
ten es ſofort und lieſſen ſich alle fuͤnfe auf dem groſſen
Balcon nieder. Dann, nachdem ſie ihre Fluͤgel hur-
tig abgelegt, gieng der aͤlteſte Sohn hinein ſie bey
ſeinem Großvater anzumelden.‟

Unmoͤglich laͤßt ſich die Freude beſchreiben, wel-
che der alte Herr beym Anblick ſeiner Tochter em-
pfand, die er faſt eben ſo munter wieder erhalten, als
er ſie verlohren hatte. Er vermochte kein Wort,
ſondern druͤckte ſie an ſeine vaͤterliche Bruſt. Als-
dann kamen Sophie und der kleine Alexander an die

Reihe.
G 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0107" n="99"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
zu ko&#x0364;nnen. Er&#x017F;t gegen Abend fiel ihm jedoch noch<lb/>
eine Betrachtung bey: Wie haben dein Vater und<lb/>
deine Mutter &#x017F;ich geehlicht?&#x201F;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Durch Ein&#x017F;egnung eines Prie&#x017F;ters, mein lieber<lb/>
Papa, der noch bey ihnen i&#x017F;t.&#x201F;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Ah das laß&#x2019; ich mir gefallen. Jch will meine<lb/>
Einwilligung gern drein geben, &#x017F;obald ich &#x017F;ie &#x017F;ehe,<lb/>
und denn i&#x017F;t alles gut.&#x201F;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Endlich brach die Nacht an. Victorins und<lb/>
Chri&#x017F;tinens Be&#x017F;orgniß fu&#x0364;r ihren a&#x0364;lte&#x017F;ten Sohn bewog &#x017F;ie<lb/>
alle unter dem Schleyer der Dunkelheit &#x017F;ich nach dem<lb/>
Schlo&#x017F;&#x017F;e B-m-t zu begeben. Selb&#x017F;t Chri&#x017F;tine mach-<lb/>
te, an der Seite ihres Gemahls die Rei&#x017F;e mit. Sie<lb/>
langten um Mitternacht an. Jhr a&#x0364;lte&#x017F;ter Sohn er-<lb/>
wartete &#x017F;ie allein in dem Gebu&#x0364;&#x017F;che. Sobald er das<lb/>
Gera&#x0364;u&#x017F;ch ihrer Flu&#x0364;gel ho&#x0364;rte, hu&#x0364;pft&#x2019; er fu&#x0364;r Freuden,<lb/>
&#x017F;chwang &#x017F;ich in die Luft und &#x017F;chrie: Glu&#x0364;cklicher Aus-<lb/>
gang &#x2014; dies war das verabredete Wort &#x2014; La&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Sie uns gleich nach dem Schlo&#x017F;&#x017F;e fliegen. Sie tha-<lb/>
ten es &#x017F;ofort und lie&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ich alle fu&#x0364;nfe auf dem gro&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Balcon nieder. Dann, nachdem &#x017F;ie ihre Flu&#x0364;gel hur-<lb/>
tig abgelegt, gieng der a&#x0364;lte&#x017F;te Sohn hinein &#x017F;ie bey<lb/>
&#x017F;einem Großvater anzumelden.&#x201F;</p><lb/>
        <p>Unmo&#x0364;glich la&#x0364;ßt &#x017F;ich die Freude be&#x017F;chreiben, wel-<lb/>
che der alte Herr beym Anblick &#x017F;einer Tochter em-<lb/>
pfand, die er fa&#x017F;t eben &#x017F;o munter wieder erhalten, als<lb/>
er &#x017F;ie verlohren hatte. Er vermochte kein Wort,<lb/>
&#x017F;ondern dru&#x0364;ckte &#x017F;ie an &#x017F;eine va&#x0364;terliche Bru&#x017F;t. Als-<lb/>
dann kamen Sophie und der kleine Alexander an die<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">G 2</fw><fw place="bottom" type="catch">Reihe.</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[99/0107] zu koͤnnen. Erſt gegen Abend fiel ihm jedoch noch eine Betrachtung bey: Wie haben dein Vater und deine Mutter ſich geehlicht?‟ „Durch Einſegnung eines Prieſters, mein lieber Papa, der noch bey ihnen iſt.‟ „Ah das laß’ ich mir gefallen. Jch will meine Einwilligung gern drein geben, ſobald ich ſie ſehe, und denn iſt alles gut.‟ „Endlich brach die Nacht an. Victorins und Chriſtinens Beſorgniß fuͤr ihren aͤlteſten Sohn bewog ſie alle unter dem Schleyer der Dunkelheit ſich nach dem Schloſſe B-m-t zu begeben. Selbſt Chriſtine mach- te, an der Seite ihres Gemahls die Reiſe mit. Sie langten um Mitternacht an. Jhr aͤlteſter Sohn er- wartete ſie allein in dem Gebuͤſche. Sobald er das Geraͤuſch ihrer Fluͤgel hoͤrte, huͤpft’ er fuͤr Freuden, ſchwang ſich in die Luft und ſchrie: Gluͤcklicher Aus- gang — dies war das verabredete Wort — Laſſen Sie uns gleich nach dem Schloſſe fliegen. Sie tha- ten es ſofort und lieſſen ſich alle fuͤnfe auf dem groſſen Balcon nieder. Dann, nachdem ſie ihre Fluͤgel hur- tig abgelegt, gieng der aͤlteſte Sohn hinein ſie bey ſeinem Großvater anzumelden.‟ Unmoͤglich laͤßt ſich die Freude beſchreiben, wel- che der alte Herr beym Anblick ſeiner Tochter em- pfand, die er faſt eben ſo munter wieder erhalten, als er ſie verlohren hatte. Er vermochte kein Wort, ſondern druͤckte ſie an ſeine vaͤterliche Bruſt. Als- dann kamen Sophie und der kleine Alexander an die Reihe. G 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/107
Zitationshilfe: Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/107>, abgerufen am 07.05.2024.