Glaube mehr und mehr schwinden, als derselbe den Schleier zerriss und sich gab wie andere Menschen. Seitdem wandelt sich die ehr- furchtsvolle Scheu, welche früher nicht einmal den Namen des Herr- schers auszusprechen wagte, allmählich in einfache Loyalität um, die dem Landesherrn gegenüber alle Pflichten eines guten Bürgers kennt und übt, aber weit entfernt ist, ihn zu vergöttern.
Von den gebildeteren Ständen der Japaner lässt sich der bessere Theil von der Ethik, der andere vom Skepticismus des Koshi (Con- fucius) und seiner Schüler leiten. Weit verbreitete religiöse Indiffe- renz und förmlicher Atheismus sind die Folgen. Dem Christenthume stehen die meisten jetzt gleichgültig gegenüber. Die philosophischen Köpfe erkennen die Schönheiten der christlichen Sittenlehre an, be- trachten aber die Ueberlegenheit der christlichen Völker als die Folge von Ursachen, die ausserhalb der Religion liegen. Sie vergleichen die Moralität der Fremden in den Vertragshäfen und sonst mit der des japanischen Volkes und sagen mit Recht: "Ihr Fremden könnt gewiss nicht behaupten, dass die Bibel viel Einfluss auf Euch hat. Ihr werdet darin ermahnt, friedfertig, nüchtern und keusch zu sein, Jedem das Seine zu geben, keinen Hass zu hegen, kein falsches Zeug- niss abzulegen, nicht zu verleumden, bescheiden einherzugehen etc., und thut von dem Allen das gerade Gegentheil".
Wenige unter den Bonzen der verschiedenen Secten verstehen die Geschichte und Dogmen ihrer Religion. Aeusserlichkeiten sind es, an denen sie hängen, wegen deren sie sich gegenseitig hassen und verachten, ohne darüber öffentlich oder in Schriften zu streiten. Die ascetische Richtung im Buddhismus fand bei den lebenslustigen, vergnügungssüchtigen Japanern nie grossen Anklang; auch wirkte die Praxis und Lehre vom Ahnencultus stets mächtig dagegen. Statt die klaren und ernsten Mahnungen Cakyamuni's zur Selbsterkennt- niss und zu einem sittenreinen Leben zu befolgen, begnügen sich die meisten buddhistischen Priester heutiges Tages mit zum Theil lächer- lichen äusserlichen Observanzen und bekunden eine erstaunliche Igno- ranz, wenn man sie um Auskunft über ihren Cultus fragt. Die eben- falls in religiösen Dingen höchst unwissende, abergläubige Menge des Volkes aber fesselt der äussere Pomp und die vielen Ceremonieen, mit welchen die gedankenarme Feier der Heiligen von den Priestern geleitet wird.
Eine Reform und Neubelebung des Buddhismus scheint denen, welche die Verhältnisse näher kennen und darüber nachgedacht haben, ebenso unmöglich, wie die versuchte des Ahnencultus. Das Christen- thum allein ist geeignet, den tiefen religiösen Zug, der im besseren
6. Religiöse Zustände.
Glaube mehr und mehr schwinden, als derselbe den Schleier zerriss und sich gab wie andere Menschen. Seitdem wandelt sich die ehr- furchtsvolle Scheu, welche früher nicht einmal den Namen des Herr- schers auszusprechen wagte, allmählich in einfache Loyalität um, die dem Landesherrn gegenüber alle Pflichten eines guten Bürgers kennt und übt, aber weit entfernt ist, ihn zu vergöttern.
Von den gebildeteren Ständen der Japaner lässt sich der bessere Theil von der Ethik, der andere vom Skepticismus des Kôshi (Con- fucius) und seiner Schüler leiten. Weit verbreitete religiöse Indiffe- renz und förmlicher Atheïsmus sind die Folgen. Dem Christenthume stehen die meisten jetzt gleichgültig gegenüber. Die philosophischen Köpfe erkennen die Schönheiten der christlichen Sittenlehre an, be- trachten aber die Ueberlegenheit der christlichen Völker als die Folge von Ursachen, die ausserhalb der Religion liegen. Sie vergleichen die Moralität der Fremden in den Vertragshäfen und sonst mit der des japanischen Volkes und sagen mit Recht: »Ihr Fremden könnt gewiss nicht behaupten, dass die Bibel viel Einfluss auf Euch hat. Ihr werdet darin ermahnt, friedfertig, nüchtern und keusch zu sein, Jedem das Seine zu geben, keinen Hass zu hegen, kein falsches Zeug- niss abzulegen, nicht zu verleumden, bescheiden einherzugehen etc., und thut von dem Allen das gerade Gegentheil«.
Wenige unter den Bonzen der verschiedenen Secten verstehen die Geschichte und Dogmen ihrer Religion. Aeusserlichkeiten sind es, an denen sie hängen, wegen deren sie sich gegenseitig hassen und verachten, ohne darüber öffentlich oder in Schriften zu streiten. Die ascetische Richtung im Buddhismus fand bei den lebenslustigen, vergnügungssüchtigen Japanern nie grossen Anklang; auch wirkte die Praxis und Lehre vom Ahnencultus stets mächtig dagegen. Statt die klaren und ernsten Mahnungen Câkyamuni’s zur Selbsterkennt- niss und zu einem sittenreinen Leben zu befolgen, begnügen sich die meisten buddhistischen Priester heutiges Tages mit zum Theil lächer- lichen äusserlichen Observanzen und bekunden eine erstaunliche Igno- ranz, wenn man sie um Auskunft über ihren Cultus fragt. Die eben- falls in religiösen Dingen höchst unwissende, abergläubige Menge des Volkes aber fesselt der äussere Pomp und die vielen Ceremonieen, mit welchen die gedankenarme Feier der Heiligen von den Priestern geleitet wird.
Eine Reform und Neubelebung des Buddhismus scheint denen, welche die Verhältnisse näher kennen und darüber nachgedacht haben, ebenso unmöglich, wie die versuchte des Ahnencultus. Das Christen- thum allein ist geeignet, den tiefen religiösen Zug, der im besseren
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6. Religiöse Zustände.
Glaube mehr und mehr schwinden, als derselbe den Schleier zerriss
und sich gab wie andere Menschen. Seitdem wandelt sich die ehr-
furchtsvolle Scheu, welche früher nicht einmal den Namen des Herr-
schers auszusprechen wagte, allmählich in einfache Loyalität um, die
dem Landesherrn gegenüber alle Pflichten eines guten Bürgers kennt
und übt, aber weit entfernt ist, ihn zu vergöttern.
Von den gebildeteren Ständen der Japaner lässt sich der bessere
Theil von der Ethik, der andere vom Skepticismus des Kôshi (Con-
fucius) und seiner Schüler leiten. Weit verbreitete religiöse Indiffe-
renz und förmlicher Atheïsmus sind die Folgen. Dem Christenthume
stehen die meisten jetzt gleichgültig gegenüber. Die philosophischen
Köpfe erkennen die Schönheiten der christlichen Sittenlehre an, be-
trachten aber die Ueberlegenheit der christlichen Völker als die Folge
von Ursachen, die ausserhalb der Religion liegen. Sie vergleichen
die Moralität der Fremden in den Vertragshäfen und sonst mit der
des japanischen Volkes und sagen mit Recht: »Ihr Fremden könnt
gewiss nicht behaupten, dass die Bibel viel Einfluss auf Euch hat.
Ihr werdet darin ermahnt, friedfertig, nüchtern und keusch zu sein,
Jedem das Seine zu geben, keinen Hass zu hegen, kein falsches Zeug-
niss abzulegen, nicht zu verleumden, bescheiden einherzugehen etc.,
und thut von dem Allen das gerade Gegentheil«.
Wenige unter den Bonzen der verschiedenen Secten verstehen
die Geschichte und Dogmen ihrer Religion. Aeusserlichkeiten sind
es, an denen sie hängen, wegen deren sie sich gegenseitig hassen
und verachten, ohne darüber öffentlich oder in Schriften zu streiten.
Die ascetische Richtung im Buddhismus fand bei den lebenslustigen,
vergnügungssüchtigen Japanern nie grossen Anklang; auch wirkte
die Praxis und Lehre vom Ahnencultus stets mächtig dagegen. Statt
die klaren und ernsten Mahnungen Câkyamuni’s zur Selbsterkennt-
niss und zu einem sittenreinen Leben zu befolgen, begnügen sich die
meisten buddhistischen Priester heutiges Tages mit zum Theil lächer-
lichen äusserlichen Observanzen und bekunden eine erstaunliche Igno-
ranz, wenn man sie um Auskunft über ihren Cultus fragt. Die eben-
falls in religiösen Dingen höchst unwissende, abergläubige Menge des
Volkes aber fesselt der äussere Pomp und die vielen Ceremonieen, mit
welchen die gedankenarme Feier der Heiligen von den Priestern
geleitet wird.
Eine Reform und Neubelebung des Buddhismus scheint denen,
welche die Verhältnisse näher kennen und darüber nachgedacht haben,
ebenso unmöglich, wie die versuchte des Ahnencultus. Das Christen-
thum allein ist geeignet, den tiefen religiösen Zug, der im besseren
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Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881, S. 537. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan01_1881/575>, abgerufen am 22.11.2024.
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