folgen rasch auf einander. Viel Lebhaftigkeit, Intelligenz und Talent, wenig Princip und kein Charakter. Gleich den Geiseln, welche das Land heimsuchen (Bousquet meint damit Taifune, Erdbeben und Feuersbrünste), hat ihre Energie langen Schlaf und unordentliches Erwachen".
Diese Beurteilung des japanischen Volkscharakters ist freilich eine keineswegs schmeichelhafte. Sie steht in auffallendem Gegen- satze zu der günstigen Meinung, welche man sich bei uns, ja im ganzen Abendlande von demselben gebildet hat. Ist letztere auch übertrieben, so kann ich mich ihr doch mehr wie jener anschliessen, vielleicht, weil ich ebenfalls mehr Gelegenheit hatte, vorwiegend nur die Lichtseiten der Japaner kennen zu lernen, und mein Urteil dadurch möglicherweise etwas befangen ist.
Die japanische Nation ist nach meiner Ansicht in mancher Be- ziehung ein Volk von Kindern, harmlos zutraulich, heiter und zu kindlichen Spielen geneigt auf allen Altersstufen, für alles Neue leicht interessiert, ja begeistert, aber wenn nur halb und kurze Zeit damit vertraut, es eben so leicht überdrüssig werdend, mit einem Worte ein Volk, das, wie die Gallier nach Caesar rerum novarum cupidi, aber vielfach ohne Stetigkeit und Ausdauer ist. Letzteres dürfte je- doch mehr von der höheren Gesellschaftsklasse als von dem Volke gelten, auf das ich alle Attribute anwenden möchte, die schon Thun- berg dem japanischen Volkscharakter zuschreibt. Sie sind hiernach im allgemeinen verständig und vorsichtig, frei, lenksam und höflich, neugierig, fleissig und geschickt, sparsam und nüchtern, reinlich, gutmüthig und freundlich, aufrichtig und gerecht, ehrlich und treu, daneben freilich auch argwöhnisch, abergläubisch und sinnlich. Eine natürliche Heiterkeit und Unverdrossenheit verlässt den gemeinen Mann auch bei schwerer Arbeit nicht und ist neben der Eintracht und Ruhe, womit alle Geschäfte im Haus und Feld verrichtet werden, eines der beneidenswerthesten Güter des japanischen Volkscharakters.
Einer der herrschenden Fehler der Orientalen ist ihr Mangel an Stetigkeit und Ausdauer. Japan macht, wie schon angedeutet wurde, keine Ausnahme von dieser Regel, dessen sind sich die Einsichtsvollen im Lande wohl bewusst. Das Urteil, welches einer derselben im Jahre 1876 in einer japanischen Zeitung in dieser Beziehung über die studierende Jugend fällte, wird jeder Fremde, welcher mit dieser zu thun hatte, bestätigen und leicht auch auf viele andere Verhält- nisse anwenden können.
"Unsere Studenten", so hiess es darin, "heften ihre Augen nur auf die Spitze der Leiter, beachten aber die Stufen nicht, über welche
II. Ethnographie.
folgen rasch auf einander. Viel Lebhaftigkeit, Intelligenz und Talent, wenig Princip und kein Charakter. Gleich den Geiseln, welche das Land heimsuchen (Bousquet meint damit Taifùne, Erdbeben und Feuersbrünste), hat ihre Energie langen Schlaf und unordentliches Erwachen«.
Diese Beurteilung des japanischen Volkscharakters ist freilich eine keineswegs schmeichelhafte. Sie steht in auffallendem Gegen- satze zu der günstigen Meinung, welche man sich bei uns, ja im ganzen Abendlande von demselben gebildet hat. Ist letztere auch übertrieben, so kann ich mich ihr doch mehr wie jener anschliessen, vielleicht, weil ich ebenfalls mehr Gelegenheit hatte, vorwiegend nur die Lichtseiten der Japaner kennen zu lernen, und mein Urteil dadurch möglicherweise etwas befangen ist.
Die japanische Nation ist nach meiner Ansicht in mancher Be- ziehung ein Volk von Kindern, harmlos zutraulich, heiter und zu kindlichen Spielen geneigt auf allen Altersstufen, für alles Neue leicht interessiert, ja begeistert, aber wenn nur halb und kurze Zeit damit vertraut, es eben so leicht überdrüssig werdend, mit einem Worte ein Volk, das, wie die Gallier nach Caesar rerum novarum cupidi, aber vielfach ohne Stetigkeit und Ausdauer ist. Letzteres dürfte je- doch mehr von der höheren Gesellschaftsklasse als von dem Volke gelten, auf das ich alle Attribute anwenden möchte, die schon Thun- berg dem japanischen Volkscharakter zuschreibt. Sie sind hiernach im allgemeinen verständig und vorsichtig, frei, lenksam und höflich, neugierig, fleissig und geschickt, sparsam und nüchtern, reinlich, gutmüthig und freundlich, aufrichtig und gerecht, ehrlich und treu, daneben freilich auch argwöhnisch, abergläubisch und sinnlich. Eine natürliche Heiterkeit und Unverdrossenheit verlässt den gemeinen Mann auch bei schwerer Arbeit nicht und ist neben der Eintracht und Ruhe, womit alle Geschäfte im Haus und Feld verrichtet werden, eines der beneidenswerthesten Güter des japanischen Volkscharakters.
Einer der herrschenden Fehler der Orientalen ist ihr Mangel an Stetigkeit und Ausdauer. Japan macht, wie schon angedeutet wurde, keine Ausnahme von dieser Regel, dessen sind sich die Einsichtsvollen im Lande wohl bewusst. Das Urteil, welches einer derselben im Jahre 1876 in einer japanischen Zeitung in dieser Beziehung über die studierende Jugend fällte, wird jeder Fremde, welcher mit dieser zu thun hatte, bestätigen und leicht auch auf viele andere Verhält- nisse anwenden können.
»Unsere Studenten«, so hiess es darin, »heften ihre Augen nur auf die Spitze der Leiter, beachten aber die Stufen nicht, über welche
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II. Ethnographie.
folgen rasch auf einander. Viel Lebhaftigkeit, Intelligenz und Talent,
wenig Princip und kein Charakter. Gleich den Geiseln, welche das
Land heimsuchen (Bousquet meint damit Taifùne, Erdbeben und
Feuersbrünste), hat ihre Energie langen Schlaf und unordentliches
Erwachen«.
Diese Beurteilung des japanischen Volkscharakters ist freilich
eine keineswegs schmeichelhafte. Sie steht in auffallendem Gegen-
satze zu der günstigen Meinung, welche man sich bei uns, ja im
ganzen Abendlande von demselben gebildet hat. Ist letztere auch
übertrieben, so kann ich mich ihr doch mehr wie jener anschliessen,
vielleicht, weil ich ebenfalls mehr Gelegenheit hatte, vorwiegend nur
die Lichtseiten der Japaner kennen zu lernen, und mein Urteil dadurch
möglicherweise etwas befangen ist.
Die japanische Nation ist nach meiner Ansicht in mancher Be-
ziehung ein Volk von Kindern, harmlos zutraulich, heiter und zu
kindlichen Spielen geneigt auf allen Altersstufen, für alles Neue leicht
interessiert, ja begeistert, aber wenn nur halb und kurze Zeit damit
vertraut, es eben so leicht überdrüssig werdend, mit einem Worte
ein Volk, das, wie die Gallier nach Caesar rerum novarum cupidi,
aber vielfach ohne Stetigkeit und Ausdauer ist. Letzteres dürfte je-
doch mehr von der höheren Gesellschaftsklasse als von dem Volke
gelten, auf das ich alle Attribute anwenden möchte, die schon Thun-
berg dem japanischen Volkscharakter zuschreibt. Sie sind hiernach
im allgemeinen verständig und vorsichtig, frei, lenksam und höflich,
neugierig, fleissig und geschickt, sparsam und nüchtern, reinlich,
gutmüthig und freundlich, aufrichtig und gerecht, ehrlich und treu,
daneben freilich auch argwöhnisch, abergläubisch und sinnlich. Eine
natürliche Heiterkeit und Unverdrossenheit verlässt den gemeinen Mann
auch bei schwerer Arbeit nicht und ist neben der Eintracht und Ruhe,
womit alle Geschäfte im Haus und Feld verrichtet werden, eines der
beneidenswerthesten Güter des japanischen Volkscharakters.
Einer der herrschenden Fehler der Orientalen ist ihr Mangel an
Stetigkeit und Ausdauer. Japan macht, wie schon angedeutet wurde,
keine Ausnahme von dieser Regel, dessen sind sich die Einsichtsvollen
im Lande wohl bewusst. Das Urteil, welches einer derselben im
Jahre 1876 in einer japanischen Zeitung in dieser Beziehung über
die studierende Jugend fällte, wird jeder Fremde, welcher mit dieser
zu thun hatte, bestätigen und leicht auch auf viele andere Verhält-
nisse anwenden können.
»Unsere Studenten«, so hiess es darin, »heften ihre Augen nur
auf die Spitze der Leiter, beachten aber die Stufen nicht, über welche
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Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881, S. 458. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan01_1881/492>, abgerufen am 22.11.2024.
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