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Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881.

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2. Periode. Von der Gründung der Hauptstadt Kioto etc.
selben, ohne zu wissen, wohin. Diese Flucht ist eins der beliebtesten
Motive japanischer Maler geworden. Tokiwa wird dabei dargestellt
mit einem Säugling, Namens Yoshitsune, an der Brust und dessen
beiden älteren Brüdern an der Hand, barfuss über das Feld eilend,
während die Schneeflocken ringsum zur Erde fallen.

So umherirrend, ermattet vor Hunger und starr vor Frost, be-
gegnet sie einem Soldaten ihres Feindes, den ihr und ihrer Kinder
Zustand rührt, der auf die Gefahr hin, sich ins eigene Verderben zu
stürzen, mitleidig denselben Obdach und Speise gewährt. Hier er-
fährt sie, dass Kiyomori in der Hoffnung, dadurch der Tochter hab-
haft zu werden, in Kioto ihre Mutter in das Gefängniss geworfen hat.
Was nun thun? -- Hineilen und dieselbe zu befreien suchen, das
gebietet ihr die alles übersteigende Kindespflicht. Doch die Erfüllung
bringt wahrscheinlich ihre eigenen Kinder ins Verderben. Es gibt nur
ein Mittel und eine Hoffnung, nämlich sich selbst dem Tyrannen vorzu-
stellen, durch ihre Schönheit ihn zu rühren und so Gnade für Mutter
und Kinder zu erwirken. So eilt sie denn nach Kioto und erkauft
der Ihrigen Leben, indem sie dem Feinde ihres Mannes ihre eigene
Freiheit opfert. Ihre Kinder werden ihr genommen und getrennt in
verschiedene Klöster geschickt. Yoshitsune, das jüngste, kam nach
Kurama, 11/2 g. Meilen nördlich von Kioto gelegen und ringsum von
bewaldeten Bergen umgeben. Es war ein eigenthümlicher Junge, der
hier emporwuchs. Sein Freiheitssinn und Eigenwille passten schlecht
zum Klosterleben, der ushi-waka (junge Ochs, wie man ihn nannte)
liess sich schwer zähmen. In Waldeseinsamkeit und nächtlicher
Dunkelheit umherzuschweifen war ihm Genuss. Nur ein Wunsch be-
seelte ihn, nämlich ein berühmter Held zu werden. Derselbe wurde
über alle Massen erfüllt. Noch zeigt man im Walde bei Kurama die
riesige Sugi (Cryptomeria), woselbst Yoshitsune eines Nachts den
Kobold Tengu traf, der sein Freund wurde und ihn das Fechten
lehrte. Sie misst über 6 Meter Stammumfang, ist umzäunt und als
O-sugi bekannt, wie denn die sagenreiche Geschichte von Kurama-
yama noch manche andere Reminiscenz aus jener Zeit aufzuweisen hat.

Als Yoshitsune zum kräftigen Jüngling herangewachsen war,
drangen Gerüchte von Kämpfen im fernen Mutsu zwischen den An-
hängern seiner Familie und den Taira zu seinen Ohren. Nun hielt es
ihn nicht länger in der Klostereinsamkeit; er wollte hineilen und daran
theilnehmen. Einem Eisenhändler aus Kioto, Namens Yorishige,
der Kurama-yama oft besuchte und ihm näher getreten war, vertraute
er seinen Wunsch, heimlich zu entfliehen, an und bat denselben um
seine Beihülfe. Auf Umwegen gelangten beide nach Kadzusa. Hier

2. Periode. Von der Gründung der Hauptstadt Kiôto etc.
selben, ohne zu wissen, wohin. Diese Flucht ist eins der beliebtesten
Motive japanischer Maler geworden. Tokiwa wird dabei dargestellt
mit einem Säugling, Namens Yoshitsune, an der Brust und dessen
beiden älteren Brüdern an der Hand, barfuss über das Feld eilend,
während die Schneeflocken ringsum zur Erde fallen.

So umherirrend, ermattet vor Hunger und starr vor Frost, be-
gegnet sie einem Soldaten ihres Feindes, den ihr und ihrer Kinder
Zustand rührt, der auf die Gefahr hin, sich ins eigene Verderben zu
stürzen, mitleidig denselben Obdach und Speise gewährt. Hier er-
fährt sie, dass Kiyomori in der Hoffnung, dadurch der Tochter hab-
haft zu werden, in Kiôto ihre Mutter in das Gefängniss geworfen hat.
Was nun thun? — Hineilen und dieselbe zu befreien suchen, das
gebietet ihr die alles übersteigende Kindespflicht. Doch die Erfüllung
bringt wahrscheinlich ihre eigenen Kinder ins Verderben. Es gibt nur
ein Mittel und eine Hoffnung, nämlich sich selbst dem Tyrannen vorzu-
stellen, durch ihre Schönheit ihn zu rühren und so Gnade für Mutter
und Kinder zu erwirken. So eilt sie denn nach Kiôto und erkauft
der Ihrigen Leben, indem sie dem Feinde ihres Mannes ihre eigene
Freiheit opfert. Ihre Kinder werden ihr genommen und getrennt in
verschiedene Klöster geschickt. Yoshitsune, das jüngste, kam nach
Kurama, 1½ g. Meilen nördlich von Kiôto gelegen und ringsum von
bewaldeten Bergen umgeben. Es war ein eigenthümlicher Junge, der
hier emporwuchs. Sein Freiheitssinn und Eigenwille passten schlecht
zum Klosterleben, der ushi-waka (junge Ochs, wie man ihn nannte)
liess sich schwer zähmen. In Waldeseinsamkeit und nächtlicher
Dunkelheit umherzuschweifen war ihm Genuss. Nur ein Wunsch be-
seelte ihn, nämlich ein berühmter Held zu werden. Derselbe wurde
über alle Massen erfüllt. Noch zeigt man im Walde bei Kurama die
riesige Sugi (Cryptomeria), woselbst Yoshitsune eines Nachts den
Kobold Tengu traf, der sein Freund wurde und ihn das Fechten
lehrte. Sie misst über 6 Meter Stammumfang, ist umzäunt und als
Ô-sugi bekannt, wie denn die sagenreiche Geschichte von Kurama-
yama noch manche andere Reminiscenz aus jener Zeit aufzuweisen hat.

Als Yoshitsune zum kräftigen Jüngling herangewachsen war,
drangen Gerüchte von Kämpfen im fernen Mutsu zwischen den An-
hängern seiner Familie und den Taira zu seinen Ohren. Nun hielt es
ihn nicht länger in der Klostereinsamkeit; er wollte hineilen und daran
theilnehmen. Einem Eisenhändler aus Kiôto, Namens Yorishige,
der Kurama-yama oft besuchte und ihm näher getreten war, vertraute
er seinen Wunsch, heimlich zu entfliehen, an und bat denselben um
seine Beihülfe. Auf Umwegen gelangten beide nach Kadzusa. Hier

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[269/0295] 2. Periode. Von der Gründung der Hauptstadt Kiôto etc. selben, ohne zu wissen, wohin. Diese Flucht ist eins der beliebtesten Motive japanischer Maler geworden. Tokiwa wird dabei dargestellt mit einem Säugling, Namens Yoshitsune, an der Brust und dessen beiden älteren Brüdern an der Hand, barfuss über das Feld eilend, während die Schneeflocken ringsum zur Erde fallen. So umherirrend, ermattet vor Hunger und starr vor Frost, be- gegnet sie einem Soldaten ihres Feindes, den ihr und ihrer Kinder Zustand rührt, der auf die Gefahr hin, sich ins eigene Verderben zu stürzen, mitleidig denselben Obdach und Speise gewährt. Hier er- fährt sie, dass Kiyomori in der Hoffnung, dadurch der Tochter hab- haft zu werden, in Kiôto ihre Mutter in das Gefängniss geworfen hat. Was nun thun? — Hineilen und dieselbe zu befreien suchen, das gebietet ihr die alles übersteigende Kindespflicht. Doch die Erfüllung bringt wahrscheinlich ihre eigenen Kinder ins Verderben. Es gibt nur ein Mittel und eine Hoffnung, nämlich sich selbst dem Tyrannen vorzu- stellen, durch ihre Schönheit ihn zu rühren und so Gnade für Mutter und Kinder zu erwirken. So eilt sie denn nach Kiôto und erkauft der Ihrigen Leben, indem sie dem Feinde ihres Mannes ihre eigene Freiheit opfert. Ihre Kinder werden ihr genommen und getrennt in verschiedene Klöster geschickt. Yoshitsune, das jüngste, kam nach Kurama, 1½ g. Meilen nördlich von Kiôto gelegen und ringsum von bewaldeten Bergen umgeben. Es war ein eigenthümlicher Junge, der hier emporwuchs. Sein Freiheitssinn und Eigenwille passten schlecht zum Klosterleben, der ushi-waka (junge Ochs, wie man ihn nannte) liess sich schwer zähmen. In Waldeseinsamkeit und nächtlicher Dunkelheit umherzuschweifen war ihm Genuss. Nur ein Wunsch be- seelte ihn, nämlich ein berühmter Held zu werden. Derselbe wurde über alle Massen erfüllt. Noch zeigt man im Walde bei Kurama die riesige Sugi (Cryptomeria), woselbst Yoshitsune eines Nachts den Kobold Tengu traf, der sein Freund wurde und ihn das Fechten lehrte. Sie misst über 6 Meter Stammumfang, ist umzäunt und als Ô-sugi bekannt, wie denn die sagenreiche Geschichte von Kurama- yama noch manche andere Reminiscenz aus jener Zeit aufzuweisen hat. Als Yoshitsune zum kräftigen Jüngling herangewachsen war, drangen Gerüchte von Kämpfen im fernen Mutsu zwischen den An- hängern seiner Familie und den Taira zu seinen Ohren. Nun hielt es ihn nicht länger in der Klostereinsamkeit; er wollte hineilen und daran theilnehmen. Einem Eisenhändler aus Kiôto, Namens Yorishige, der Kurama-yama oft besuchte und ihm näher getreten war, vertraute er seinen Wunsch, heimlich zu entfliehen, an und bat denselben um seine Beihülfe. Auf Umwegen gelangten beide nach Kadzusa. Hier

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Zitationshilfe: Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 1. Leipzig, 1881, S. 269. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan01_1881/295>, abgerufen am 23.11.2024.