auch die fliehenden Gegenstände abkontrefeit, aber die aufgenommenen Bilder nicht festhalten, nicht als Eigenthum sich aneignen kann.
Das Wesen des Selbstbewusstseyns scheint vorzüglich darin zu bestehn, dass es das Man- nichfaltige zur Einheit verknüpft, und sich das Vorgestellte als Eigenthum anmasst. So klar wir uns unserer bewusst sind, so wenig sind wir es uns bewusst, wie es zugehe. Ich will es daher versuchen, diesem Vermögen der Seele durch eine Analogie aus dem Gebiete der Organisation näher zu treten. Der Mensch hat Individualität, wenn er gleich höchst theilbar; Einheit, wenn er gleich ein Aggregat der fremdartigsten Organe ist. Knochen, Knorpel, Muskeln, Drüsen, Ein- geweide, wie verschiedner Natur sind nicht diese Dinge? Dazu kömmt noch, dass wir jede der- selben als einen isolirten Körper betrachten kön- nen, der durch sich eine bloss mechanische, keine dynamische Verknüpfung mit dem andern hat. Erst durch das Nervensystem, an dessen Schnüre sie aufgereiht sind, kömmt Einheit in diese grosse Mannichfaltigkeit. Aeste desselben sammlen ein- zelne Parthieen zu Sinnorganen, Eingeweiden, Gliedern u. s. w. auf, und dann erst werden diese verschiednen Getriebe, durch das Gehirn, als den Hauptbrennpunkt des Nervensystems, zu einem Ganzen zusammengehängt. Dieser Ein- richtung, die das mannichfaltige Körperliche zu einem Individuum erhebt, scheint die Ursache
auch die fliehenden Gegenſtände abkontrefeit, aber die aufgenommenen Bilder nicht feſthalten, nicht als Eigenthum ſich aneignen kann.
Das Weſen des Selbſtbewuſstſeyns ſcheint vorzüglich darin zu beſtehn, daſs es das Man- nichfaltige zur Einheit verknüpft, und ſich das Vorgeſtellte als Eigenthum anmaſst. So klar wir uns unſerer bewuſst ſind, ſo wenig ſind wir es uns bewuſst, wie es zugehe. Ich will es daher verſuchen, dieſem Vermögen der Seele durch eine Analogie aus dem Gebiete der Organiſation näher zu treten. Der Menſch hat Individualität, wenn er gleich höchſt theilbar; Einheit, wenn er gleich ein Aggregat der fremdartigſten Organe iſt. Knochen, Knorpel, Muskeln, Drüſen, Ein- geweide, wie verſchiedner Natur ſind nicht dieſe Dinge? Dazu kömmt noch, daſs wir jede der- ſelben als einen iſolirten Körper betrachten kön- nen, der durch ſich eine bloſs mechaniſche, keine dynamiſche Verknüpfung mit dem andern hat. Erſt durch das Nervenſyſtem, an deſſen Schnüre ſie aufgereiht ſind, kömmt Einheit in dieſe groſse Mannichfaltigkeit. Aeſte deſſelben ſammlen ein- zelne Parthieen zu Sinnorganen, Eingeweiden, Gliedern u. ſ. w. auf, und dann erſt werden dieſe verſchiednen Getriebe, durch das Gehirn, als den Hauptbrennpunkt des Nervenſyſtems, zu einem Ganzen zuſammengehängt. Dieſer Ein- richtung, die das mannichfaltige Körperliche zu einem Individuum erhebt, ſcheint die Urſache
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[54/0059]
auch die fliehenden Gegenſtände abkontrefeit,
aber die aufgenommenen Bilder nicht feſthalten,
nicht als Eigenthum ſich aneignen kann.
Das Weſen des Selbſtbewuſstſeyns ſcheint
vorzüglich darin zu beſtehn, daſs es das Man-
nichfaltige zur Einheit verknüpft, und ſich das
Vorgeſtellte als Eigenthum anmaſst. So klar wir
uns unſerer bewuſst ſind, ſo wenig ſind wir es
uns bewuſst, wie es zugehe. Ich will es daher
verſuchen, dieſem Vermögen der Seele durch
eine Analogie aus dem Gebiete der Organiſation
näher zu treten. Der Menſch hat Individualität,
wenn er gleich höchſt theilbar; Einheit, wenn er
gleich ein Aggregat der fremdartigſten Organe
iſt. Knochen, Knorpel, Muskeln, Drüſen, Ein-
geweide, wie verſchiedner Natur ſind nicht dieſe
Dinge? Dazu kömmt noch, daſs wir jede der-
ſelben als einen iſolirten Körper betrachten kön-
nen, der durch ſich eine bloſs mechaniſche, keine
dynamiſche Verknüpfung mit dem andern hat.
Erſt durch das Nervenſyſtem, an deſſen Schnüre
ſie aufgereiht ſind, kömmt Einheit in dieſe groſse
Mannichfaltigkeit. Aeſte deſſelben ſammlen ein-
zelne Parthieen zu Sinnorganen, Eingeweiden,
Gliedern u. ſ. w. auf, und dann erſt werden dieſe
verſchiednen Getriebe, durch das Gehirn, als
den Hauptbrennpunkt des Nervenſyſtems, zu
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einem Individuum erhebt, ſcheint die Urſache
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/59>, abgerufen am 27.11.2024.
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