tungen, scheint es gerathen zu seyn, wie bereits oben gesagt ist, die Vermögen der Seele, und die Gesetze, nach welchen sie wirkt, einer eigenen, diesem Zweck besonders entsprechenden Ansicht zu würdigen. Der Arzt war meistens nicht Philo- soph, der Philosoph nicht Arzt genug, um die Psy- chologie nach dieser Idee zu bearbeiten. Man rai- sonirt zu viel und beobachtet zu wenig; schaut theils ohne Plan, theils nicht ohne Vorurtheil an; phi- losophirt auf der Stube und vergleicht die gemach- ten Erfahrungen zu sparsam mit der Natur, so dass sie durch die kreisenden Traductionen von einem Verleger zum andern zuletzt ihre ursprüngliche Gestalt verlieren. Gewöhnlich wird die Seele nur in ihrem normalen, selten in ihrem abnor- men Zustand geschildert; und von diesem werden alsdann nicht etwan die einfachen Arten, sondern die verworrenen Gruppen ihrer gänzlichen Zerrüt- tung aufgestellt. Gute Köpfe sollten sich in Nerven- krankheiten selbst beobachten, welches aber, lei- der! selten geschieht. Denn dadurch würde mehr Ausbeute, und diese von einem besseren Gehalt ge- wonnen, als durch das kalte Anschaun der Oberflä- che, welches bloss einer dritten Person möglich ist. Endlich lässt sich von der Narrheit der Menschen in den Tollhäusern weit mehr Nutzen ziehn, als bisher geschehen ist. Man findet sie hier ohne Maske, und sieht, was sie sind und werden kön- nen, wenn das Räderwerk der Organisation in Unordnung gerathen ist. Kurz, man war mit
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tungen, ſcheint es gerathen zu ſeyn, wie bereits oben geſagt iſt, die Vermögen der Seele, und die Geſetze, nach welchen ſie wirkt, einer eigenen, dieſem Zweck beſonders entſprechenden Anſicht zu würdigen. Der Arzt war meiſtens nicht Philo- ſoph, der Philoſoph nicht Arzt genug, um die Pſy- chologie nach dieſer Idee zu bearbeiten. Man rai- ſonirt zu viel und beobachtet zu wenig; ſchaut theils ohne Plan, theils nicht ohne Vorurtheil an; phi- loſophirt auf der Stube und vergleicht die gemach- ten Erfahrungen zu ſparſam mit der Natur, ſo daſs ſie durch die kreiſenden Traductionen von einem Verleger zum andern zuletzt ihre urſprüngliche Geſtalt verlieren. Gewöhnlich wird die Seele nur in ihrem normalen, ſelten in ihrem abnor- men Zuſtand geſchildert; und von dieſem werden alsdann nicht etwan die einfachen Arten, ſondern die verworrenen Gruppen ihrer gänzlichen Zerrüt- tung aufgeſtellt. Gute Köpfe ſollten ſich in Nerven- krankheiten ſelbſt beobachten, welches aber, lei- der! ſelten geſchieht. Denn dadurch würde mehr Ausbeute, und dieſe von einem beſſeren Gehalt ge- wonnen, als durch das kalte Anſchaun der Oberflä- che, welches bloſs einer dritten Perſon möglich iſt. Endlich läſst ſich von der Narrheit der Menſchen in den Tollhäuſern weit mehr Nutzen ziehn, als bisher geſchehen iſt. Man findet ſie hier ohne Maske, und ſieht, was ſie ſind und werden kön- nen, wenn das Räderwerk der Organiſation in Unordnung gerathen iſt. Kurz, man war mit
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tungen, ſcheint es gerathen zu ſeyn, wie bereits
oben geſagt iſt, die Vermögen der Seele, und die
Geſetze, nach welchen ſie wirkt, einer eigenen,
dieſem Zweck beſonders entſprechenden Anſicht
zu würdigen. Der Arzt war meiſtens nicht Philo-
ſoph, der Philoſoph nicht Arzt genug, um die Pſy-
chologie nach dieſer Idee zu bearbeiten. Man rai-
ſonirt zu viel und beobachtet zu wenig; ſchaut theils
ohne Plan, theils nicht ohne Vorurtheil an; phi-
loſophirt auf der Stube und vergleicht die gemach-
ten Erfahrungen zu ſparſam mit der Natur, ſo daſs
ſie durch die kreiſenden Traductionen von einem
Verleger zum andern zuletzt ihre urſprüngliche
Geſtalt verlieren. Gewöhnlich wird die Seele
nur in ihrem normalen, ſelten in ihrem abnor-
men Zuſtand geſchildert; und von dieſem werden
alsdann nicht etwan die einfachen Arten, ſondern
die verworrenen Gruppen ihrer gänzlichen Zerrüt-
tung aufgeſtellt. Gute Köpfe ſollten ſich in Nerven-
krankheiten ſelbſt beobachten, welches aber, lei-
der! ſelten geſchieht. Denn dadurch würde mehr
Ausbeute, und dieſe von einem beſſeren Gehalt ge-
wonnen, als durch das kalte Anſchaun der Oberflä-
che, welches bloſs einer dritten Perſon möglich iſt.
Endlich läſst ſich von der Narrheit der Menſchen
in den Tollhäuſern weit mehr Nutzen ziehn, als
bisher geſchehen iſt. Man findet ſie hier ohne
Maske, und ſieht, was ſie ſind und werden kön-
nen, wenn das Räderwerk der Organiſation in
Unordnung gerathen iſt. Kurz, man war mit
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/56>, abgerufen am 27.11.2024.
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