Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

sinnige kömmt gar zu keinen Urtheilen, selbst
nicht zu solchen, für deren Wahrheit der unmit-
telbare Augenschein spricht. Dem Dummen
fehlt es an Ausbreitung, dem Blödsinnigen an
beiden, an Ausbreitung und Schärfe der Auf-
merksamkeit. Der Dumme fasst einzelne Mo-
mente und urtheilt richtig, wenn es vorzüglich
auf das gefasste Moment ankömmt; hingegen kann
er keine Mannichfaltigkeit mit nöthiger Schnel-
ligkeit beachten und schliesst falsch, wenn dazu
ein Abwägen vieler Gründe gegen einander er-
fordert wird. Er urtheilt über einfache Objekte,
und über Objekte, mit welchen er täglich um-
geht, richtig; irrt sich aber leicht in verwickelten
und zusammengesetzten Geschäfften, in Geschäff-
ten, die zwar an sich leicht, aber ihm unge-
wöhnlich sind, und endlich in Geschäfften, die
nicht sowohl durch bündige Gründe, als vielmehr
durch eine scharfe Muthmassung bestimmt wer-
den müssen. Er kann behalten was er liest; aber
von dem Gelesenen keinen Gebrauch machen; er
kann nachahmen, aber nicht erfinden; in Wissen-
schaften, wo es auf strenge Beweise, eher, als

storbnen Organe ein neues Leben zu giessen.
Die Erscheinungen dieser Schwachheit, welche
den Unglücklichen niemals aus dem Stande der
Kindheit herausgehen lässt, sind zu bekannt,
als dass es nöthig wäre, sich dabey lange auf-
zuhalten. Kant's kleine Schriften, herausge-
geben von Rink, Königsberg 1800. 42 S.

ſinnige kömmt gar zu keinen Urtheilen, ſelbſt
nicht zu ſolchen, für deren Wahrheit der unmit-
telbare Augenſchein ſpricht. Dem Dummen
fehlt es an Ausbreitung, dem Blödſinnigen an
beiden, an Ausbreitung und Schärfe der Auf-
merkſamkeit. Der Dumme faſst einzelne Mo-
mente und urtheilt richtig, wenn es vorzüglich
auf das gefaſste Moment ankömmt; hingegen kann
er keine Mannichfaltigkeit mit nöthiger Schnel-
ligkeit beachten und ſchlieſst falſch, wenn dazu
ein Abwägen vieler Gründe gegen einander er-
fordert wird. Er urtheilt über einfache Objekte,
und über Objekte, mit welchen er täglich um-
geht, richtig; irrt ſich aber leicht in verwickelten
und zuſammengeſetzten Geſchäfften, in Geſchäff-
ten, die zwar an ſich leicht, aber ihm unge-
wöhnlich ſind, und endlich in Geſchäfften, die
nicht ſowohl durch bündige Gründe, als vielmehr
durch eine ſcharfe Muthmaſsung beſtimmt wer-
den müſſen. Er kann behalten was er lieſt; aber
von dem Geleſenen keinen Gebrauch machen; er
kann nachahmen, aber nicht erfinden; in Wiſſen-
ſchaften, wo es auf ſtrenge Beweiſe, eher, als

ſtorbnen Organe ein neues Leben zu gieſsen.
Die Erſcheinungen dieſer Schwachheit, welche
den Unglücklichen niemals aus dem Stande der
Kindheit herausgehen läſst, ſind zu bekannt,
als daſs es nöthig wäre, ſich dabey lange auf-
zuhalten. Kant’s kleine Schriften, herausge-
geben von Rink, Königsberg 1800. 42 S.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0427" n="422"/>
&#x017F;innige kömmt gar zu keinen Urtheilen, &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
nicht zu &#x017F;olchen, für deren Wahrheit der unmit-<lb/>
telbare Augen&#x017F;chein &#x017F;pricht. Dem Dummen<lb/>
fehlt es an Ausbreitung, dem Blöd&#x017F;innigen an<lb/>
beiden, an Ausbreitung und Schärfe der Auf-<lb/>
merk&#x017F;amkeit. Der Dumme fa&#x017F;st einzelne Mo-<lb/>
mente und urtheilt richtig, wenn es vorzüglich<lb/>
auf das gefa&#x017F;ste Moment ankömmt; hingegen kann<lb/>
er keine Mannichfaltigkeit mit nöthiger Schnel-<lb/>
ligkeit beachten und &#x017F;chlie&#x017F;st fal&#x017F;ch, wenn dazu<lb/>
ein Abwägen vieler Gründe gegen einander er-<lb/>
fordert wird. Er urtheilt über einfache Objekte,<lb/>
und über Objekte, mit welchen er täglich um-<lb/>
geht, richtig; irrt &#x017F;ich aber leicht in verwickelten<lb/>
und zu&#x017F;ammenge&#x017F;etzten Ge&#x017F;chäfften, in Ge&#x017F;chäff-<lb/>
ten, die zwar an &#x017F;ich leicht, aber ihm unge-<lb/>
wöhnlich &#x017F;ind, und endlich in Ge&#x017F;chäfften, die<lb/>
nicht &#x017F;owohl durch bündige Gründe, als vielmehr<lb/>
durch eine &#x017F;charfe Muthma&#x017F;sung be&#x017F;timmt wer-<lb/>
den mü&#x017F;&#x017F;en. Er kann behalten was er lie&#x017F;t; aber<lb/>
von dem Gele&#x017F;enen keinen Gebrauch machen; er<lb/>
kann nachahmen, aber nicht erfinden; in Wi&#x017F;&#x017F;en-<lb/>
&#x017F;chaften, wo es auf &#x017F;trenge Bewei&#x017F;e, eher, als<lb/><note xml:id="seg2pn_10_2" prev="#seg2pn_10_1" place="foot" n="***)">&#x017F;torbnen Organe ein neues Leben zu gie&#x017F;sen.<lb/>
Die Er&#x017F;cheinungen die&#x017F;er Schwachheit, welche<lb/>
den Unglücklichen niemals aus dem Stande der<lb/>
Kindheit herausgehen lä&#x017F;st, &#x017F;ind zu bekannt,<lb/>
als da&#x017F;s es nöthig wäre, &#x017F;ich dabey lange auf-<lb/>
zuhalten. <hi rendition="#g">Kant&#x2019;s</hi> kleine Schriften, herausge-<lb/>
geben von <hi rendition="#g">Rink</hi>, Königsberg 1800. 42 S.</note><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[422/0427] ſinnige kömmt gar zu keinen Urtheilen, ſelbſt nicht zu ſolchen, für deren Wahrheit der unmit- telbare Augenſchein ſpricht. Dem Dummen fehlt es an Ausbreitung, dem Blödſinnigen an beiden, an Ausbreitung und Schärfe der Auf- merkſamkeit. Der Dumme faſst einzelne Mo- mente und urtheilt richtig, wenn es vorzüglich auf das gefaſste Moment ankömmt; hingegen kann er keine Mannichfaltigkeit mit nöthiger Schnel- ligkeit beachten und ſchlieſst falſch, wenn dazu ein Abwägen vieler Gründe gegen einander er- fordert wird. Er urtheilt über einfache Objekte, und über Objekte, mit welchen er täglich um- geht, richtig; irrt ſich aber leicht in verwickelten und zuſammengeſetzten Geſchäfften, in Geſchäff- ten, die zwar an ſich leicht, aber ihm unge- wöhnlich ſind, und endlich in Geſchäfften, die nicht ſowohl durch bündige Gründe, als vielmehr durch eine ſcharfe Muthmaſsung beſtimmt wer- den müſſen. Er kann behalten was er lieſt; aber von dem Geleſenen keinen Gebrauch machen; er kann nachahmen, aber nicht erfinden; in Wiſſen- ſchaften, wo es auf ſtrenge Beweiſe, eher, als ***) ***) ſtorbnen Organe ein neues Leben zu gieſsen. Die Erſcheinungen dieſer Schwachheit, welche den Unglücklichen niemals aus dem Stande der Kindheit herausgehen läſst, ſind zu bekannt, als daſs es nöthig wäre, ſich dabey lange auf- zuhalten. Kant’s kleine Schriften, herausge- geben von Rink, Königsberg 1800. 42 S.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/427
Zitationshilfe: Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 422. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/427>, abgerufen am 18.05.2024.