sinnige kömmt gar zu keinen Urtheilen, selbst nicht zu solchen, für deren Wahrheit der unmit- telbare Augenschein spricht. Dem Dummen fehlt es an Ausbreitung, dem Blödsinnigen an beiden, an Ausbreitung und Schärfe der Auf- merksamkeit. Der Dumme fasst einzelne Mo- mente und urtheilt richtig, wenn es vorzüglich auf das gefasste Moment ankömmt; hingegen kann er keine Mannichfaltigkeit mit nöthiger Schnel- ligkeit beachten und schliesst falsch, wenn dazu ein Abwägen vieler Gründe gegen einander er- fordert wird. Er urtheilt über einfache Objekte, und über Objekte, mit welchen er täglich um- geht, richtig; irrt sich aber leicht in verwickelten und zusammengesetzten Geschäfften, in Geschäff- ten, die zwar an sich leicht, aber ihm unge- wöhnlich sind, und endlich in Geschäfften, die nicht sowohl durch bündige Gründe, als vielmehr durch eine scharfe Muthmassung bestimmt wer- den müssen. Er kann behalten was er liest; aber von dem Gelesenen keinen Gebrauch machen; er kann nachahmen, aber nicht erfinden; in Wissen- schaften, wo es auf strenge Beweise, eher, als
storbnen Organe ein neues Leben zu giessen. Die Erscheinungen dieser Schwachheit, welche den Unglücklichen niemals aus dem Stande der Kindheit herausgehen lässt, sind zu bekannt, als dass es nöthig wäre, sich dabey lange auf- zuhalten. Kant's kleine Schriften, herausge- geben von Rink, Königsberg 1800. 42 S.
ſinnige kömmt gar zu keinen Urtheilen, ſelbſt nicht zu ſolchen, für deren Wahrheit der unmit- telbare Augenſchein ſpricht. Dem Dummen fehlt es an Ausbreitung, dem Blödſinnigen an beiden, an Ausbreitung und Schärfe der Auf- merkſamkeit. Der Dumme faſst einzelne Mo- mente und urtheilt richtig, wenn es vorzüglich auf das gefaſste Moment ankömmt; hingegen kann er keine Mannichfaltigkeit mit nöthiger Schnel- ligkeit beachten und ſchlieſst falſch, wenn dazu ein Abwägen vieler Gründe gegen einander er- fordert wird. Er urtheilt über einfache Objekte, und über Objekte, mit welchen er täglich um- geht, richtig; irrt ſich aber leicht in verwickelten und zuſammengeſetzten Geſchäfften, in Geſchäff- ten, die zwar an ſich leicht, aber ihm unge- wöhnlich ſind, und endlich in Geſchäfften, die nicht ſowohl durch bündige Gründe, als vielmehr durch eine ſcharfe Muthmaſsung beſtimmt wer- den müſſen. Er kann behalten was er lieſt; aber von dem Geleſenen keinen Gebrauch machen; er kann nachahmen, aber nicht erfinden; in Wiſſen- ſchaften, wo es auf ſtrenge Beweiſe, eher, als
ſtorbnen Organe ein neues Leben zu gieſsen. Die Erſcheinungen dieſer Schwachheit, welche den Unglücklichen niemals aus dem Stande der Kindheit herausgehen läſst, ſind zu bekannt, als daſs es nöthig wäre, ſich dabey lange auf- zuhalten. Kant’s kleine Schriften, herausge- geben von Rink, Königsberg 1800. 42 S.
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ſinnige kömmt gar zu keinen Urtheilen, ſelbſt
nicht zu ſolchen, für deren Wahrheit der unmit-
telbare Augenſchein ſpricht. Dem Dummen
fehlt es an Ausbreitung, dem Blödſinnigen an
beiden, an Ausbreitung und Schärfe der Auf-
merkſamkeit. Der Dumme faſst einzelne Mo-
mente und urtheilt richtig, wenn es vorzüglich
auf das gefaſste Moment ankömmt; hingegen kann
er keine Mannichfaltigkeit mit nöthiger Schnel-
ligkeit beachten und ſchlieſst falſch, wenn dazu
ein Abwägen vieler Gründe gegen einander er-
fordert wird. Er urtheilt über einfache Objekte,
und über Objekte, mit welchen er täglich um-
geht, richtig; irrt ſich aber leicht in verwickelten
und zuſammengeſetzten Geſchäfften, in Geſchäff-
ten, die zwar an ſich leicht, aber ihm unge-
wöhnlich ſind, und endlich in Geſchäfften, die
nicht ſowohl durch bündige Gründe, als vielmehr
durch eine ſcharfe Muthmaſsung beſtimmt wer-
den müſſen. Er kann behalten was er lieſt; aber
von dem Geleſenen keinen Gebrauch machen; er
kann nachahmen, aber nicht erfinden; in Wiſſen-
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***) ſtorbnen Organe ein neues Leben zu gieſsen.
Die Erſcheinungen dieſer Schwachheit, welche
den Unglücklichen niemals aus dem Stande der
Kindheit herausgehen läſst, ſind zu bekannt,
als daſs es nöthig wäre, ſich dabey lange auf-
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 422. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/427>, abgerufen am 22.11.2024.
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